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Gefährlich, aber attraktiv: Migranten zieht es nach Libyen

Jennifer Holleis | Islam Alatrash
15. Juli 2024

Menschenhändler, Milizen, Massengräber - nichts scheint die Migranten davon abzuhalten, nach Libyen zu kommen. Beobachter glauben, dass nur internationaler Druck die Lage ändern kann.

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Größere Zahl gestrandete afrikanische Migranten lagert an der libyschen Küste
Trotz der Gefahren: Immer mehr Migranten zieht es nach LibyenBild: MAHMUD TURKIA/AFP/Getty Images

Die Razzia der uniformierten libyschen Sicherheitskräfte kam völlig überraschend. Am Mittwochmorgen stürmten sie ein Café in der Küstenstadt Zuwara in der Nähe der tunesischen Grenze. Dort wartete eine Gruppe von Migranten auf potenzielle Arbeitgeber. Sie wurden zusammengetrieben und einige von ihnen wurden scheinbar wahllos verhaftetet und abgeführt.

Michael Shira ist 19 Jahre alt und stammt aus Nigeria. Auch er hielt sich an jenem Morgen im Café auf, entging jedoch einer Verhaftung. "Wir leben in ständiger Angst", erzählt er der DW. "Die libyschen Behörden verhaften gerade jeden Migranten, den sie nur sehen."

Zwei Migranten aus Afrika an der libysch-tunesischen Grenze in Ras Ajdir lagern hinter Stacheldraht am Boden
Für viele Migranten führt der Weg nach Europa über LibyenBild: Hazem Ahmed/REUTERS

Shira hält sich schon seit einigen Monaten in Libyen auf. Er sucht Arbeit und wartet auf eine Gelegenheit, per Boot nach Europa überzusetzen. "Zuerst war ich in Tunesien, aber die tunesische Polizei war hinter mir her", berichtet er. Bei dem Versuch, die Grenze nach Libyen zu überqueren, wurde er fast von tunesischen Sicherheitskräften verhaftet. "Sie wollten uns Migranten an die libyschen Behörden übergeben und jeder weiß, was dann passiert", meint der Teenager. In vielen Fällen enden Migranten wie er in den Internierungslagern Libyens.

Wer liegt in den Massengräbern?

"Wir beobachten noch immer zahllose Menschenrechtsverletzungen gegen Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende in Libyen", klagt Liz Throssell, Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte gegenüber der DW. Laut den Vereinten Nationen zählen dazu Menschenschmuggel, Folter, Zwangsarbeit, Erpressung, Hunger bei unzumutbaren Haftbedingungen, Massenvertreibungen und Menschenhandel. "All das findet im großen Stil und völlig ungestraft statt, wobei staatliche und nicht-staatliche Akteure oft Hand in Hand arbeiten", fügt Throssel hinzu.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk forderte die libyschen Behörden am Dienstag außerdem auf, ein kürzlich entdecktes Massengrab im libysch-tunesischen Grenzgebiet sowie ein im März dieses Jahres im libyschen Al-Jahriya-Tal entdecktes Massengrab mit mindestens 65 Leichen zu untersuchen.

Immer mehr Migranten aus Ländern südlich der Sahara, die über Nordafrika nach Europa gelangen wollen, starten von Libyen oder Tunesien ihre Reise über das Mittelmeer. Beide Länder sind jedoch auch eine Partnerschaft mit der Europäischen Union eingegangen, die bemüht ist, den Strom von Migranten über das Mittelmeer einzudämmen.

Im Juli berichtete die italienische Nachrichtenagentur Nova News Agency, dass von keinem anderen Land so viele Migranten nach Italien aufbrächen, wie von Libyen. Die Zahl der Ankömmlinge scheint jedoch zu sinken. In diesem Jahr gelang es bis zum 5. Juli etwa 14.755 Migranten, italienische Inseln von Libyen aus zu erreichen. Im Vergleich zum Vorjahr sanken die Zahlen damit um 47 Prozent. Abfahrten von Tunesien aus fielen um etwa 70 Prozent auf 10.247 Migranten.

Trotz Gefahren attraktiv

Doch dass weniger Migranten Libyen verlassen, lässt nicht darauf schließen, dass weniger Menschen nach Libyen reisen. Im Gegenteil, Menschenrechtsorganisationen vor Ort beobachten einen Anstieg. Genaue Zahlen sind jedoch nur schwer zu bekommen, denn Libyen befindet sich seit einem Jahrzehnt in politischen Turbulenzen.

Der Westen des Landes wird von Präsident Abdul Hamid Dbeiba regiert, dessen Regierung in Tripolis von den Vereinten Nationen anerkannt wird. Im Osten des Landes herrscht General Chalifa Haftar. Doch mit dieser politischen Pattsituation nicht genug, in anderen Teilen des Landes sind Milizen aktiv und es herrschen Unruhen.

"Die selben Umstände, die das Reisen durch Libyen erschweren, machen es auch attraktiv, durch Libyen zu reisen", erklärt Tim Eaton von der Londoner Denkfabrik Chatham House. Obwohl "die zahlreichen Gefahren der Reise durch Libyen bekannt sind", steige die Zahl der Migranten.

Mehrere an der Grenze ausgesetzte afrikanische Migranten in der Hitze auf sandigem Boden
Nur internationaler Druck könnte die Situation für Migranten in Libyen verbessernBild: Yousef Murad/AP/picture alliance

"Die Abwesenheit von Gesetz und Ordnung in Libyen und die Möglichkeiten, die dies Schmugglernetzwerken bietet, oft gemeinsam mit den Behörden ihrem Handwerk nachzugehen, führen dazu, dass diese Praktiken weiter bestehen", sagt er zur DW.

Eaton rechnet nicht damit, dass sich Libyens Umgang mit durchreisenden Migranten in nächster Zukunft ändern wird, auch wenn hier am 17. Juli das Trans-Mediterranean Migration Forum stattfinden soll.

Lauren Seibert, zuständig für Flüchtlings- und Migrantenrechte bei Human Rights Watch (HRW), ist überzeugt, dass nur Druck auf internationaler Ebene helfen kann. "Tunesien sollte sofort alle Abschiebungen in Grenzregionen, in denen Menschenleben in Gefahr sind, einstellen", sagt sie zur DW und fügt hinzu, dass die EU "Zahlungen an Behörden, die solche tödlichen Abschiebungen durchführen", stoppen sollte.

David Yambio ist Menschenrechtsaktivist bei der regierungsunabhängigen Organisation Refugees in Libya. Er glaubt, dass sich die Situation von Migranten in Libyen nur verbessern wird, wenn die internationale Gemeinschaft ihr Verhalten ändert: "Nämlich dann, wenn die EU aufhört, die politischen Sphären von Milizen und Regierungsbehörden miteinander zu verbinden."

Rechtlos

Das UN-nahe Mixed Migration Center und die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung stellten in einem kürzlich veröffentlichten Bericht fest, dass Libyen selbst als Zielland bei Migranten immer beliebter wird. "Eine wichtige Rolle spielen die guten Arbeitsmöglichkeiten", schreiben die Autoren, doch das Fehlen gesetzlicher Rechte erhöhe auch die Verletzlichkeit der Migranten.

Rettung von Migranten im zentralen Mittelmeer
Weniger Migranten machten sich 2024 auf den Weg von Libyen nach EuropaBild: Johanna de Tessieres/SOS Mediterranee/AP/picture alliance

Die 24-jährige Nika William aus Ghana, die nach Libyen kam, um das Geld für ihre Reise nach Europa zu verdienen, wird sich immer an die traumatischen Erfahrungen erinnern, die sie machen musste. "Ich fiel erst einer libyschen Gang in die Hände, wurde vergewaltigt und schwanger und wurde schließlich im Al-Assa-Gefängnis inhaftiert, berichtet sie der DW in Zuwara.

"Jeden Morgen mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und wurden ausgepeitscht. Ich verlor das Kind und kann immer noch nicht glauben, dass ich das überlebt habe", erzählt sie. Irgendwann wurde sie freigelassen, doch die Angst bleibt: "Alles was ich will, ist eine Zukunft in Sicherheit, aber ich weiß nicht, ob ich das jemals erreichen werde oder ob ich heute sterbe."

Michael Shira aus Nigeria hat das gleiche Ziel. "Ich möchte einfach nach Europa, wo ich sicher bessere Lebenschancen haben werde", sagt er. "Doch der Weg dahin ist lang und voller Gefahren. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.