Wohlweislich hat der Ampel-Koalitionsvertrag Russland den meisten Raum im Kapitel "Bilaterale und regionale Beziehungen" gewidmet. Neben freundlichen Worten, die den deutsch-russischen Beziehungen Tiefe und Vielfältigkeit attestieren, wird unmissverständliche Kritik an Russlands aggressivem Kurs in der unmittelbaren Nachbarschaft geäußert.
Die Rede ist von "Destabilisierungsversuchen gegen die Ukraine, der Gewalt in der Ostukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim" sowie der "umfassenden Einschränkung bürgerlicher und demokratischer Freiheiten". In anderen Worten: Russland führt einen psychologischen, hybriden Krieg, der sich nicht nur auf die Ukraine und Anrainerstaaten beschränkt, sondern für den gesamten Westen eine zunehmende Gefahr darstellt.
Der Einmarsch in der Ukraine als reales Szenario
Nuklearfähige russische Bomber werden von NATO-Kampfjets über der Nordsee abgefangen. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko erpresst mit Rückendeckung von Russlands Präsident Putin die Europäische Union mit Flüchtlingen. An der russisch-ukrainischen Grenze versammelt der Kreml knapp hunderttausend Soldaten und schweres Kampfgerät. Cyberangriffe auf die Ukraine und die EU sind an der Tagesordnung.
In den vergangenen Wochen verschärfte sich der Konflikt mit Russland gleich an mehreren Fronten, die Nerven liegen blank - ein russischer Einmarsch in die Ukraine wird inzwischen in Washington und Kiew als reales Szenario eingestuft und lässt dunkle Erinnerungen an die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 wach werden. Gerade jetzt müssen Berlin und die EU den Sicherheitsbedenken der Ukraine Rechnung tragen und an der Seite Kiews stehen. Ein Beschwichtigen des Kremls hätte katastrophale Folgen - für ganz Europa, nicht nur für die Ukraine.
Ein Krieg nicht nur mit Waffen
Um die Ukraine zu schützen, müssen Deutschland und andere Verbündete verstehen, dass sich die russische Aggression nicht auf Panzer und Truppen beschränkt. Die Feindseligkeiten des Kremls gegenüber der Ukraine sind Teil eines umfassenderen Musters der Kriegsführung, die auch den Energie-, Finanz- und Wirtschaftssektor umfasst. Immer wieder nutzt Russland Gas als politische Waffe. Momentan zu einem Zeitpunkt, in dem Europa von einer lähmenden Energiekrise betroffen ist. Erst kürzlich torpedierte Moskau den proeuropäischen Kurs der neuen moldauischen Regierung mit einem inzwischen wieder beigelegten Gasstreit.
Abgesehen von der Pipeline-Politik rund um Nord Stream 2 bedroht Russland die territoriale Integrität der Ukraine durch eine zermürbende Wirtschaftskriegführung. Sie zielt darauf ab, die ukrainische Regierung in eine finanzielle Sackgasse zu zwingen. Dazu gehören verschärfte Zollverfahren und Abfertigungsschikanen, die zu langen Wartezeiten an der Grenze führen, die Verhängung von Einfuhrverboten für ukrainische Produkte oder Darlehenskürzungen für die ukrainische Industrie durch russische Banken.
Nach Schätzungen der US-Denkfabrik Atlantic Council hat die russische Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine Kiew mindestens 100 Milliarden US-Dollar gekostet durch Zerstörung, Beschlagnahmung von Vermögenswerten und den Reputationsverlust, den die ukrainischen Wirtschaft zu erleiden hat. Der menschliche Tribut ist mit 14.000 Toten seit dem Beginn des Konflikts weitaus höher.
Wie Europa Druck auf Russland ausüben kann
Die EU hätte die Instrumente und die politische Kraft, um darauf entschieden zu antworten. Die EU braucht aber einen neuen strategischen Rahmen für den Umgang mit Russland. Dabei sollte Brüssel zum einen die regulatorische Karte weiter ausspielen und viel konkreter die Diversifizierung und Entflechtung der Energiemärkte vorantreiben. Gemeinsam mit Frankreich sollte die Bundesregierung den Druck auf Russland verstärken.
Dies bedeutet, die Nord Stream 2-Pipeline strenger zu regulieren und Gazprom dazu zu bewegen, Gas an die russisch-ukrainische Grenze zu liefern. Die Mitte November erfolgte Aussetzung des Zertifizierungsverfahrens für Nord Stream 2 durch die Bundesnetzagentur lässt sich daher als deutliches, wenn auch überfälliges Signal an den Kreml deuten, dass sein Destabilisierungskurs nicht länger unbeantwortet bleibt. Auch der Green Deal zur Erfüllung der ambitionierten europäischen Klimaziele ist von Brüssel als Druckmittel gegenüber Moskau noch gar nicht ausgespielt worden. Der Klimawandel schafft neue geopolitische Realitäten, die Russland im Laufe der Zeit lukrative Einnahmequellen sowie seine wichtigsten Macht- und Einflussmittel kosten werden.
Rote Linien aufzeigen
Berlin und Paris sollten parallel auch das Normandie-Format wiederbeleben, eine Verhandlungsplattform, die die Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs zusammenbringt. Die russische Weigerung daran teilzunehmen, ist bezeichnend.
Während sie versucht sich russischer Aggression entgegenzustellen, muss die EU gleichzeitig auch sicherstellen, dass die ukrainische Regierung die notwendige Unterstützung erhält, um auf Kurs bleiben zu können. Auf sich allein gestellt, besteht die große Gefahr, dass das Land erneut politisch aktiven Oligarchen wie Viktor Medwedtschuk und dem ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko zum Opfer fallen könnte, die den Russen in einer Zeit, in der eine Einheitsfront entscheidend ist, Tür und Tor öffnen.
Die neue Bundesregierung soll ihre Kommunikationskanäle mit Moskau nutzen, um deutlich die roten Linien und die Folgen eines aggressiven Handelns zu kommunizieren. Wenn die kombinierte diplomatische und wirtschaftliche Macht der EU in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien nicht ausreicht, um Russland von seinem derzeitigen Kurs abzubringen, dann droht Europa ein langer, kalter Winter.
Oliver Rolofs ist Sicherheitsexperte und war langjähriger Kommunikationschef der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er das Programm für Energiesicherheit aufbaute.