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Politik

8. Mai 1945 - Nur eine Zwischenetappe

Professor Dr. Herfried Münkler
Herfried Münkler
8. Mai 2020

Am 8. Mai 1945 wurde nachvollzogen, was militärisch längst Tatsache war: die Niederlage Deutschlands und des Naziregimes. Die mentale Entnazifizierung der Deutschen dagegen dauerte noch Jahre, meint Herfried Münkler.

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Moskau Roter Platz Siegesparade am 24. Juni 1945
Bei der Siegesparade auf dem Roten Platz wurden die erbeuteten Fahnen und NS-Standarten symbolisch zu Boden geworfenBild: picture-alliance/akg-images

Am 8. Mai 1945 "schwiegen in Europa die Waffen", wie es metaphorisch so schön heißt. Konkret: Es wurde nicht mehr gekämpft und nicht mehr getötet - nicht mehr an den Fronten, wo es solche denn noch gab, und nicht mehr mit Bombenangriffen auf Städte.

Am Tag zuvor bereits hatte die Wehrmachtführung im Hauptquartier der Westalliierten in Reims die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet; am 9. Mai wurde das Zeremoniell gegenüber der Sowjetunion in Berlin-Karlshorst noch einmal wiederholt. Deswegen gibt es bis heute unterschiedliche Gedenktage zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Seit dem 8. Mai, 23 Uhr, wurde jedenfalls nicht mehr gekämpft. Ungefähr 60 Millionen Menschenleben hatte der Krieg in Europa, Ostasien und im Pazifik gekostet.

Das Ende eines Albtraums

Für die Nazi-Herrschaft in Deutschland war das Kriegsende nur eine Zwischenetappe, denn bis Ende Mai residierte Großadmiral Dönitz mit Teilen der alten Machtelite in der Marineschule Mürwick ganz im Norden Deutschlands, in Flensburg, und tat so, als läge die oberste Gewalt in Deutschland weiterhin bei ihm. In anderen Teilen Deutschlands hatte mit dem schnellen Vordringen der Westalliierten und der sowjetischen Truppen die Herrschaft der NS-Funktionäre schon im März oder April geendet.

Professor Dr. Herfried Münkler
Professor Herfried MünklerBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Eine Reihe von Wehrmachtsoffizieren und beherzten Zivilisten hatte im Westen dafür gesorgt, dass viele zur bedingungslosen Verteidigung vorgesehene Städte ohne größere Kampfhandlungen übergeben wurden. Im Osten hingegen wurde bis zuletzt erbittert gekämpft. Für die meisten Menschen in Deutschland - Zivilbevölkerung, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Insassen - war der 8. Mai ein in erster Linie symbolisches Datum: Besiegt, besetzt oder befreit worden (je nachdem, wie sie es sahen) waren sie zumeist schon früher. Dementsprechend spielte der 8. Mai in der Rückerinnerung für sie keine große Rolle. Wichtig war er hingegen für die Menschen außerhalb Deutschlands, für die an diesem Tag ein Albtraum zu Ende ging.

Der Krieg hatte am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnen, dem waren die französische und britische Kriegserklärung an Deutschland gefolgt, bald darauf der sowjetische Angriff auf Ostpolen. Dem ersten Anschein nach handelte es sich damals um einen Revisionskrieg zur Zerschlagung der Versailler Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Doch die früh einsetzenden Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung Polens waren ein Vorzeichen dafür, dass dieser Krieg schon bald zum Weltanschauungskrieg werden sollte: gegen die Slawen, gegen die Juden, gegen den Bolschewismus. Seit dem Sommer 1941 wurde er von Hitler und Goebbels auch offen so bezeichnet. Es wurde ein Krieg, der in Europa unterschiedliche Spuren hinterlassen hat - in physischer wie in psychischer Hinsicht: Im Westen wurde er zu einem Trauma, das mancherorts bis heute fortwirkt, im Osten jedoch zur Katastrophe. Und hier hinterließ er eine Spur der Vernichtung, die bis heute zu sehen ist.

Eine schrittweise "Entnazifizierung"

Teile der Deutschen waren fanatische Anhänger Hitlers und überzeugte Nationalsozialisten; andere waren bloß Gegner der Versailler Ordnung und feierten in den ersten beiden Kriegsjahren deren militärische Zerschlagung; viele waren indifferent, solange der Krieg nicht gar zu tief in ihr Leben eingriff; nur wenige waren Kriegsgegner. Das begann sich seit 1943, der Niederlage von Stalingrad und dem immer heftiger werdenden Bombenkrieg, zu ändern. Es machte sich eine zunehmende Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus breit, auf die das Regime mit einer Strategie von immer stärkerem Fanatismus reagierte.

Die "Entnazifizierung" der Deutschen vollzog sich schrittweise: Für manche begann sie bereits 1943, für andere erst mit der seit Anfang 1945 unabwendbaren Niederlage, für wieder andere mit dem sich konsolidierenden Wohlstand im Nachkriegsdeutschland - und einige wenige blieben Nazis bis zum Ende ihres Lebens. Das Kriegsende am 8. Mai 1945 war nur ein Zwischenschritt bei der mentalen Entnazifizierung der Deutschen. In politischer Hinsicht indes war es der wichtigste Schritt, denn es war die Voraussetzung für die Schaffung eines anderen, eines neuen Deutschlands.

Herfried Münkler ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte und lehrte bis 2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin.