G20-Gipfel: Deutschland sucht Nähe zu Brasilien und Mexiko
15. November 2024Als am 1.Oktober mit Claudia Sheinbaum erstmals eine Frau das Präsidentenamt Mexikos übernahm und die Abgeordneten ihre Rede im Kongress in Mexiko-Stadt frenetisch bejubelten, applaudierten auch viele internationale Gäste: der brasilianische Staatschef Lula da Silva, Chiles Präsident Gabriel Boric und die US-amerikanische First Lady Jill Biden. Und Deutschland? Frank-Walter Steinmeier, der im September 2022 das letzte Mal in Mexiko war, ließ sich ausgerechnet bei diesem historischen Moment vertreten. Durch den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff.
Jetzt hätte Olaf Scholz eigentlich am Dienstagabend in Mexiko-Stadt landen sollen, um tags darauf von Claudia Sheinbaum mit militärischen Ehren empfangen zu werden. Doch die Regierungskrise in Deutschland machte dem Kanzler kurzfristig einen Strich durch die Rechnung: Scholz fliegt vom G-20-Gipfel in Rio de Janeiro direkt nach Hause. In Brasilien wird aber zumindest ein bilaterales Treffen angepeilt. Deutschland scheint doch noch zu merken, wie wichtig die Beziehungen zu Mexiko in diesen weltpolitisch herausfordernden Zeiten sind.
Das Land ist mit 29 Milliarden Euro Handelsvolumen Deutschlands wichtigster Handelspartner in Lateinamerika, rund 300.000 Arbeitsplätze hängen an deutschen Firmen in Mexiko. Gleichzeitig ist Deutschland für Mexiko Handelspartner Nummer eins in der Europäischen Union. Mexikanische Pflegekräfte sind heiß begehrt hierzulande, die Lateinamerika-Offensive der deutschen Wirtschaft soll außerdem noch Ingenieure und Naturwissenschaftler nach Deutschland locken. In Mexiko mehren sich die Stimmen, die Beziehungen weiter zu intensivieren.
Shephanie Henero, mexikanische Expertin für Geopolitik, sagt der DW: "Es wird immer gesagt, dass sich Mexiko Europa annähern sollte, um die Abhängigkeit zu den USA zu verringern. Aber bisher ist dies noch nicht passiert, 80 Prozent der mexikanischen Exporte gegen in die USA. Aber jetzt öffnet sich gerade ein Zeitfenster, um die Beziehungen mit Deutschland gerade im Bereich der erneuerbaren Energien und der Automobilwirtschaft zu vertiefen."
Erreicht die VW-Krise bald Mexiko?
Noch, erzählt Henero, sei die VW-Krise in Deutschland mit möglichen Werksschließungen und der Streichung von Zehntausenden Jobs in Mexiko kein Thema. Aber sicherlich werde auch die mexikanische Wirtschaft darunter leiden, VW sei schließlich der wichtigste Player in Mexikos Automobilindustrie, mit der lokalen Tochter "Volkswagen de México". Im größten Automobilwerk in Puebla wurden im vergangenen Jahr fast 350.000 Automobile produziert.
Und dann sind da noch die Wahlen in den USA mit dem Sieger Donald Trump, der die geopolitische Weltlage wahrscheinlich kräftig durcheinanderwirbeln wird – sicherlich ganz oben auf der Agenda von Scholz und Sheinbaum. In Mexiko ist vor allem die Sorge groß, dass Donald Trump mit seiner Drohung ernst macht, illegale Einwanderer massiv abzuschieben. Von den schätzungsweise elf Millionen Migranten ohne Papiere sind fast die Hälfte Mexikaner.
Auch dies würde sich massiv auf Mexikos Wirtschaft auswirken. Das Land erhält nach Angaben der Weltbank weltweit nach Indien die meisten Auslandsüberweisungen, 2023 um die 67 Milliarden US-Dollar. Mehr deutsches Engagement käme da gerade recht, sagt Stephanie Henero: "Wenn man den Kontinent in der Mitte teilt, handelt der Süden vor allem mit China, die Mitte und der Norden mehr mit den USA. Europa muss die transatlantischen Beziehungen nicht nur auf die USA beschränken, es sollte auch einen lateinamerikanischen "Atlantismus" geben."
Deutsche Wirtschaft hofft auf Durchbruch beim EU-Mercosur-Freihandelsabkommen
Läuft alles optimal, landet der deutsche Kanzler am Mittwochmorgen in Deutschland mit einer Nachricht im Gepäck, die genau in diese Richtung geht: dann nämlich, wenn am Rande des G20-Gipfels in Rio de Janeiro das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien nach 25 Jahren Verhandlungen abgeschlossen wird. Und so die größte Handelszone der Welt mit mehr als 720 Millionen Menschen entstehen würde.
"Dieses Freihandelsabkommen wäre ein Befreiungsschlag für die deutsche Wirtschaft. Wir müssen diese Chance nutzen, es ist geopolitisch gerade eine schwierigere Situation kaum vorstellbar", sagt Volker Treier, der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer. "Jetzt ist das Zeitfenster offen: Man kann nicht 25 Jahre verhandeln, dann zu keinem Abschluss kommen und glauben, dass man alles noch weiter ziehen kann wie Kaugummi. Wenn nicht jetzt, wann dann?", fragt er.
Treier berichtet der DW von einer gemeinsamen Konjunkturumfrage der europäischen Kammerverbände in Brüssel. Das Ergebnis: "Ziemlich mau". Gerade angesichts des drohenden Protektionismus der künftigen US-Regierung wäre das Abkommen ein wichtiges Signal für Europa und die deutsche Wirtschaft. Batterien, Solarpaneele, Windenergie, grüner Wasserstoff – Europa könnte seine grüne Transformation durch die südamerikanischen Rohstoffe schneller und nachhaltiger hinbekommen.
China als Nutznießer?
Im Gegenzug würden dann die vier Milliarden Euro wegfallen, welche die europäischen Unternehmen jährlich an Zöllen für ihre Ausfuhren in die Mercosur-Länder zahlen, rechnet Volker Treier vor. "Wir haben schon gute Beziehungen mit dem Mercosur, aber es fehlt eine wirkliche Dynamik. Das liegt auch daran, dass die Mercosur-Länder gerade für den Klassiker deutscher Exportgüter, also das Automobil, aber auch für Produkte der Elektrotechnik oder des Maschinenbaus zum Teil wirklich sehr hohe Zollsätze zwischen 25 und 30 Prozent aufschlagen."
Die frühere estnische Premierministerin und künftige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas bläst ins gleiche Horn: "Wenn wir kein Handelsabkommen mit ihnen abschließen, dann wird diese Lücke von China gefüllt werden". Zwischen 2020 und 2022 hätte China seine Investitionen in der Region um das 34-fache erhöht. Im peruanischen Chancay ist gerade der erste von China kontrollierte Mega-Hafen Südamerikas eröffnet worden.
Sollte der Abschluss des EU-Mercosur-Freihandelsabkommens nicht auf dem G20-Gipfel klappen, peilen die Befürworter den Mercosur-Gipfel am 5. und 6. Dezember in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, an.
Gegner des Freihandelsabkommens in Europa und Südamerika formieren sich
Doch gleichzeitig wächst der Widerstand, in Südamerika und auch Europa, und das nicht nur bei Umweltverbänden. Europäische Landwirte laufen Sturm und kritisieren, es gebe Doppelstandards und damit einen unfairen Wettbewerb mit den Kollegen aus Lateinamerika.
600 französische Abgeordnete fordern die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem Appell in der Zeitung "Le Monde" auf, das Abkommen nicht zu unterzeichnen. Was noch schwerer wiegt: Der französische Ministerpräsident Michel Barnier teilte mit, Frankreich könne und werde das Abkommen in seiner jetzigen Form nicht akzeptieren.
Der argentinische Biologe und alternative Nobelpreisträger Raúl Montenegro sagt der DW: "Das Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU ist für Europa von viel größerem Vorteil als für Südamerika. Die Hauptleidtragenden eines eventuellen Abkommens werden unweigerlich die biologische Vielfalt Südamerikas, seine kleinen und mittleren Unternehmen und die Armen in beiden Regionen sein."
Brasilien auf dem Weg nach ganz oben auf der internationalen Bühne
Auf den G20-Gastgeber Lula, der den Kampf gegen Hunger und den Klimawandel in der Abschlusserklärung von Rio festschreiben will, wartet mit dem Endlos-Thema Freihandelsabkommen eine weitere Herkulesaufgabe. "Ich war noch nie so optimistisch, was das EU-Mercosur-Abkommen angeht", hatte der brasilianische Staatschef am Rande der UN-Generalversammlung in New York vor zwei Monaten gesagt. Lula will Brasilien in seiner dritten und voraussichtlich letzten Amtszeit zu den wichtigsten globalen Playern aufsteigen lassen.
Auch deshalb drängt die Zeit, sagt der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer Volker Treier: "Auf der Seite der Mercosur-Länder wie bei anderen Ländern des globalen Südens wächst deren Selbstbewusstsein. Wir waren vor zweieinhalb Wochen in Indien mit der asiatischen Konferenz und dort ist das analog: Man reicht uns noch immer die Hand, aber das wird nicht in Ewigkeit so bleiben."