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Frankreichs Rentenreform: Mission impossible?

30. Januar 2023

Frankreichs Regierung will das Rentensystem reformieren und unter anderem das Mindestrentenalter auf 64 Jahre erhöhen. Doch die Mehrheit der Franzosen ist dagegen - und sogar manche Ökonomen.

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Frankreich I Landesweiter Streik gegen die Rentenreform
Mit Fahne und Pyrotechnik: Die Gewerkschaft CGT führt die Proteste anBild: Eric Gaillard/REUTERS

Der erste Protesttag gegen die Rentenreform der Regierung könnte ein schlechtes Omen für Präsident Emmanuel Macron sein. Mindestens 80.000 Menschen waren am 19. Januar in Paris zusammengekommen (siehe Artikelbild), landesweit waren es bis zu zwei Millionen. So viele Demonstranten wie seit über zehn Jahren nicht mehr. An diesem Dienstag (31.01.) gehen die Proteste weiter. 

Immer wieder erklangen Gesänge wie "On est là, on est là, même si Macron ne veut pas, on est là" ("Wir sind da, auch wenn Macron das nicht will"). Denn obwohl die Regierung darauf pocht, dass die Rentenreform unbedingt nötig sei, sind viele Franzosen gegen die Pläne. Und sogar manch ein Ökonom.

Grundschullehrer Frank Lopes Costa war einer der Demonstranten an jenem Donnerstag in Paris. "Es geht hier nicht nur um die Rente - die Reform stellt das Herz unseres Gesellschaftssystems in Frage", sagte der 35-jährige zur DW. "Die Zeiten sind sowieso schon schwierig, auch wegen der steigenden Preise. Jetzt wollen sie uns auch noch diese Reform aufzwängen. Frankreich wird wirtschaftlich immer liberaler, aber wir wollen das nicht." Der Anteil der Franzosen, die wie Lopes Costa gegen die Reform sind, steigt laut Umfragen - zuletzt waren es fast 70 Prozent.

Regierung hält Reform für nötig

Dabei besteht die Regierung darauf, dass die Reform dringend notwendig sei. "Wir wollen unser Umlagesystem bewahren. Diese Reform wird die Zukunft unserer Rente garantieren", sagte Premierministerin Elisabeth Borne Mitte Januar vor dem Senat. Anders als andere Länder wie Deutschland hat Frankreich ein reines Umlagesystem, ohne Elemente der privaten Vorsorge. Dabei gibt es allgemeine Rentenkassen für Angestellte und Beamte und 27 Sonderkassen, zum Beispiel für Balletttänzer der Pariser Oper und Polizisten, die früher in Rente gehen.

Paris PK Arbeitsminister Olivier Dussopt zur Rentenreform
Frankreichs Arbeitsminister Olivier Dussopt spricht auf einer PK zur RentenreformBild: LUDOVIC MARIN/AFP

Die Regierung will bis 2030 das Mindestrentenalter von im Moment 62 auf 64 Jahre anheben. Außerdem müssten Menschen ab 2027 mindestens 43 Jahre - und nicht mehr nur 42 - gearbeitet haben, um eine volle Rente zu beziehen. In jedem Fall einen Anspruch auf den vollen Rentensatz hat man wie gehabt ab 67. Die Reform würde jenen, die besonders früh zu arbeiten angefangen haben, eine frühere Rente garantieren und gewisse Sonderkassen beibehalten, gleichzeitig andere abschaffen. Macron plant auch, die Mindestrente um etwa 100 Euro auf rund 1200 Euro im Monat anzuheben.

Wer bezahlt die Beamten-Pensionen?

Bei ihrer Argumentation stützt sich die Regierung auf einen Bericht einer von der Regierung beauftragten Expertenkommission. Demnach würden die Rentenausgaben 2032 bis zu 14,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen und nicht mehr, wie aktuell, 13,8 Prozent. Für viele Ökonomen ist es daher richtig, am Mindestrentenalter zu schrauben - auch angesichts der demographischen Entwicklung.

"1950 haben noch vier Arbeitende einen Rentner finanziert, 2000 waren es nur noch zwei und 2040 sind es dann 1,3. Das wird nicht mehr tragbar sein", sagt Jean-Marc Daniel, emeritierter Professor für Wirtschaft an der Pariser ESCP Business School. "Außerdem ist das Rentensystem nur deswegen nicht in den roten Zahlen, weil die Regierung unter anderem für die Pensionen der Beamten aufkommt. Würde sie das nicht tun, gäbe es ein Defizit von 30 Milliarden Euro."

Ökonom Philippe Crevel, Chef der Pariser Denkschmiede Cercle de l'Epargne, pflichtet ihm bei. "Diese Reform ist nötig, auch weil wir mehr Arbeiter brauchen, um das Wirtschaftswachstum zu fördern", erklärt er gegenüber DW. "In Frankreich ist die Beschäftigungsquote unter Senioren im Vergleich zu anderen Ländern relativ niedrig. Eine Anhebung des Mindestrentenalter würde diese automatisch erhöhen."

Frankreich I Landesweiter Streik gegen die Rentenreform
Bei den Protesten ist er als Buhmann auserkoren: Präsident Emmanuel MacronBild: Benoit Tessier/REUTERS

Ein verwirrender Expertenstreit

Doch nicht alle Wirtschaftswissenschaftler stehen hinter der Reform. Und paradoxerweise stützen deren Gegner sich auf den gleichen Bericht der Expertenkommission, den auch die Regierung als Beweismittel aufführt. Darin steht nämlich, dass "je nach politischen Vorlieben es absolut legitim ist, eine Rentenreform durchzuführen oder auch nicht". Schließlich zeigten die Ergebnisse der Berechnungen nicht, dass die Ausgaben außer Kontrolle geraten würden.

Für Michael Zemmour, Ökonom an der Universität Paris Sorbonne und nicht verwandt mit dem umstrittenen Rechtsaußen-Politiker Eric Zemmour, ist dies der Beweis, dass die Regierung die Reform aus anderen Gründen macht. "Unserem Rentensystem geht es gut, auch weil das Rentenalter durch vorherige Maßnahmen schon angehoben wurde", meint er zu DW. "Die Regierung will nur ihren Haushalt ausgleichen, weil sie vor allem Unternehmen Steuererleichterungen gewährt hat - sie wollen Stück für Stück unser Sozialsystem auseinandernehmen."

Dabei seien die hohen Staatsausgaben durchaus berechtigt, denn das französische Umlagesystem reduziere Ungleichheiten. Zudem arbeiteten sowieso schon viele länger als bis zum 62. Lebensjahr, um den vollen Rentensatz zu bekommen. Frankreichs tatsächliches Rentenalter sei im Mittelfeld Europas, so der Wirtschaftsexperte. "Der Bericht der Experten sagt zwar in einigen Jahren ein Defizit voraus, aber das könnte man auch durch höhere Arbeitnehmer- und Arbeitgeberabgaben ausgleichen, was vielen Franzosen lieber wäre als diese Reform", sagt Zemmour.

Frankreich I Landesweiter Streik gegen die Rentenreform
Eisenbahner beim landesweiten Streik gegen die RentenreformBild: Sarah Meyssonnier/REUTERS

Stolz auf die Arbeit - und die Rente

Angesichts eines solchen Dissens wüssten die Franzosen nun kaum, was sie denken sollen, sagt die auf die Arbeitswelt spezialisierte Soziologin Danièle Linhart. "Die Experten in den Medien überschütten uns mit Beispielen und Analysen, von denen man kaum etwas versteht", meint die Forschungsdirektorin Emeritus am öffentlichen Institut CNRS zu DW. "Die Menschen sehen, dass das Fazit einer Analyse von der Ideologie des Experten abhängt. Hier geht es darum, in welcher Gesellschaft wir leben wollen - einer marktorientierten, in der das Recht das Stärkeren gilt, oder einer, die Ungleichheiten abfedert."

Dabei reagiere man hierzulande auf das Thema Rentenreform besonders empfindlich. "Die Franzosen haben eine ganz besondere Beziehung zum Thema Arbeit, die in der Zeit der französischen Revolution begründet liegt", erklärt sie. "Diese hat etabliert, dass man nur als freier Bürger seine Arbeitskraft verkaufen kann. Arbeit wurde so zum Symbol des Klassenkampfs. Für das Recht, in einem gewissen Alter in Rente zu gehen, hat man lange gekämpft." Und dieses Recht wollen die Franzosen nicht einfach so aufgeben - weitere Demonstrationen und Streiks sind schon geplant.