1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Sicherheit durch Abschiebung?

Andreas Noll
4. Juli 2021

Mehr als die Hälfte aller erfassten islamistisch radikalisierten Personen ohne regulären Aufenthaltstitel haben die französischen Behörden seit 2018 abgeschoben. Nun sollen weitere ausländische Kriminelle folgen.

https://p.dw.com/p/3vwq2
Symbolbild Abschiebung
Bild: Robert Schlesinger/picture alliance

Als Gérald Darmanin im Juni die Präfekten des Landes zu sich rief, war die Botschaft des französischen Innenministers eindeutig: Die Verantwortlichen in den Départements müssten bei kriminell gewordenen Ausländern schnell und konsequent durchgreifen. Aufenthaltsberechtigungen sollten überprüft und die Zahl der Abschiebungen müsse nach besonders schweren Straftaten erhöht werden. Totschlag, Drogenhandel oder Vergewaltigung nannte der Minister als Beispiel.

Auch wenn es nicht sofort zur Abschiebung kommt - per Brief erhalten straffällig Gewordene in Frankreich die Botschaft, was der Staat von ihnen erwartet: "Jedes Jahr nimmt die Französische Republik Menschen aus anderen Ländern bei sich auf. Eine der Bedingungen dafür ist die strikte Einhaltung der auf dem Staatsgebiet geltenden Regeln und Gesetze", zitiert die Zeitung "Le Journal du Dimanche" aus der Vorlage, die mit einer Warnung schließt: "Jede weitere Straftat wird zu einer erneuten Prüfung Ihres Aufenthaltsstatus führen, die so weit gehen könnte, dass Sie Frankreich verlassen müssen."

Frankreich Gerald Darmanin
Will die Zahl der Abschiebungen erhöhen: Innenminister Gérald DarmaninBild: Eliot Blondet/dpa/picture alliance

Parallel zu dieser Initiative veröffentlichte die Regierung auch neue Zahlen zur Abschiebepraxis. Rund 23.000 Personen umfasst das französische Register für terroristisch radikalisierte Islamisten (FSPRT). Von den dort verzeichneten 1115 Personen mit irregulärem Aufenthaltsstatus seien in den vergangenen drei Jahren 601 Ausländer in ihre Heimat abgeschoben worden - also mehr als die Hälfte. Von den 514 verbliebenen "Gefährdern" verbüße ein großer Teil derzeit Gefängnisstrafen oder befinde sich in Abschiebehaft.

Wandel des Täterprofils

Mehr als 250 Menschen sind in Frankreich bei Terroranschlägen in den vergangenen Jahren getötet worden. Regierungen unterschiedlicher Couleur haben mit schärferen Gesetzen reagiert. Das Thema Abschiebungen hat dabei an Brisanz gewonnen, auch weil sich das Profil der Attentäter gewandelt hat: "Die Täter waren zuletzt nicht mehr Franzosen, die in Frankreich aufgewachsen sind und die in französische Schulen gegangen sind. In den vergangenen zwei bis drei Jahren haben in Frankreich zunehmend Ausländer die Anschläge verübt. Manche hatten einen legalen Status, den des Asylbewerbers zum Beispiel, andere wiederum befanden sich irregulär im Land", analysiert Terrorismus-Experte Marc Hecker, der am Pariser Institut français des relations internationales (Ifri) als Forschungsdirektor arbeitet und in seinem gerade erschienenen Buch "Der zwanzigjährige Krieg" (La Guerre de vingt ans) diese Entwicklung nachzeichnet.

Marc Hecker - Forschungsdirektor des "Institut français des relations internationales"
ifri-Forschungsdirektor Marc HeckerBild: Emilie Moysson

Die Politik stellt dieser Wandel vor große Herausforderungen. Viele Heimatländer verweigern die Aufnahme radikalisierter Staatsbürger. Erklären sie sich doch dazu bereit, droht den Abgeschobenen dort womöglich Gefahr für Leib und Leben. Wie lange das Ringen um eine Abschiebung in der Vergangenheit dauern konnte, zeigt das Beispiel Djamel Beghal, der 2005 in Frankreich wegen Terrorismus verurteilt worden war und später eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung der Charlie-Hebdo-Attentäter in Paris gespielt haben soll. Der Algerier war 1987 als 21-Jähriger nach Frankreich gekommen und seit den 1990er Jahren auf dem Radar der Sicherheitsbehörden. Trotz der Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft 2006 scheiterte damals die Abschiebung nach Algerien aus diesen humanitären Gründen.

Überforderte Aufnahmeländer

Heute spielen entsprechende Überlegungen auf französischer Seite offensichtlich eine veränderte Rolle. Frankreich schiebt zwar weiterhin keine Menschen in Kriegsgebiete ab, aber die Liste der Staaten, in die nicht abgeschoben wird, hat sich im Laufe der Jahre verkürzt. Djamel Beghal wurde vor drei Jahren, unmittelbar nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis, nach Algerien abgeschoben.

Tunesien Doppel-Selbstmordanschlag in Tunis
Angespannte Sicherheitslage: Tunesische Polizisten nach einem Doppel-Selbstmordanschlag im Juni 2019Bild: Reuters/Z. Souissi

Ob Algerien, Tunesien oder auch Marokko: Die Zahl der Rückführungen in die Maghreb-Staaten wurde nach Verhandlungen mit diesen Staaten deutlich erhöht - was dort wiederum Einfluss auf die Sicherheitslage hat. Allein aus Tunesien wollten in den 2010er Jahren rund 25.000 Männer und Frauen in den Bürgerkrieg nach Syrien ziehen. Rund 4500 haben es geschafft und davon ist längst ein großer Teil wieder in die Heimat zurückgekehrt, was die Sicherheitsbehörden vor enorme Herausforderungen stellt. "Radikalisierte in Länder zu schicken, die nicht die gleichen Möglichkeiten zur Überwachung haben wie Frankreich, das erhöht natürlich das Problem für diese Länder", analysiert Terrorismusexperte Hecker. Gleichwohl wird die Abschiebepraxis auch von der Opposition in Frankreich unterstützt. Zumal auch die Ressourcen des französischen Staates endlich sind. Marc Hecker: "Die Radikalisierten-Datenbank FSPRT umfasst heute etwa 23.000 Personen, von denen rund 8000 Einträge als aktiv gelten. Das ist sehr viel für ein Land wie Frankreich. Man sieht auch an den Anschlägen in den vergangenen Monaten und Jahren, dass die Dienste nicht unfehlbar sind." 

Entlastung für Sicherheitsbehörden

Das französische Überwachungssystem kommt aber nicht nur wegen der hohen Zahl an "Gefährdern" an seine Grenzen. Sorge bereitet den Fachleuten auch, dass die Dienste die Täter für die jüngsten Anschläge überhaupt nicht auf dem Radar hatten. Den aus Tschetschenien stammenden Aboulakh A., der im Oktober 2020 den Geschichtslehrer Samuel Paty ermordete, hatten sie zuvor genauso wenig im Blick wie den tunesischen Attentäter, derin Nizza kurze Zeit später drei Menschen in einer Kirche tötete. "Dieser Tunesier befand sich irregulär in Frankreich und war erst sehr kurze Zeit zuvor eingereist. Er war überhaupt erst einen Monat vor dem Anschlag aus Tunesien kommend nach Europa gelangt", so Hecker. Auch der 36 Jahre alte Tunesier, der im April eine Mitarbeiterin der Polizei auf der Wache in Rambouillet erstochen hat, war den Behörden vorher nicht bekannt.

Frankreich Marsch in Paris zum Gedenken an Samuel Paty
Gedenken an Samuel Paty: In Europa beklagt Frankreich seit Jahren die höchste Zahl an Opfern von TerroranschlägenBild: Kiran Ridley/Getty Images

Ob sich durch Abschiebungen die angespannte Sicherheitslage in Frankreich dauerhaft verbessert, ist offen. Aber zumindest kurzfristig dürften sie die Behörden entlasten. Eine unerkannte Rückkehr nach Frankreich über das Mittelmeer hält ifri-Forscher Hecker angesichts der Registrierungspflichten und des Schengen-Informationssystems für sehr aufwändig. Fragen bleiben allerdings: "Es gibt derzeit in Frankreich diese Debatte über diese mögliche Änderung des Attentäterprofils. Und die große Frage steht nun im Raum: Ist das nur vorübergehend, weil die 'alte Generation' von Terroristen, die aus Frankreich stammte, jetzt im Gefängnis sitzt und irgendwann auch wieder entlassen wird - oder handelt es sich um eine Entwicklung, die anhalten wird?"