Frankreich: Streit um fleischloses Schulessen
27. Februar 2021Lyon gilt als ein Zentrum französischer Kulinarik. Die gutbürgerlichen "Bouchons" - die Gaststätten - sind über die Staatsgrenzen der Grande Nation hinaus bekannt für ihre deftige und doch hochklassige Küche. Und ausgerechnet hier sollen die Schüler nun in der Mittagspause ohne Lyoner Wurst und Co auskommen. Seit Montag geben die Schulkantinen auf Geheiß von Bürgermeister Grégory Doucet nur noch fleischfreie Menüs aus.
Ob die 2018 verstorbene Lyoner Koch-Ikone Paul Bocuse sich deswegen wohl geärgert hätte? Die Landwirte des Département Rhône tun es. Sie wittern in der Entscheidung einen ideologischen Boykott eines grünen Bürgermeisters.
Prompt zogen also Vertreter zweier Bauernverbände vor das Rathaus, fütterten dort erst ihre Kühe mit Heu und dann Menschen mit Fleisch.
Es geht nicht um die Kinder
Nun fällt es vielleicht leicht zu glauben, dass ein grüner Bürgermeister den Fleischkonsum an Schulen aus ökologischen Erwägungen abschaffen will. Doch dagegen verwahrt sich Doucet entschieden.
Es gehe um eine beschleunigte Essensausgabe, die mit zwei Metern Corona-Abstand selbst in der ohnehin verlängerten Mittagspause nur mit einem Einheitsmenü zu schaffen sei. Nicht aber, wenn sich auch noch jedes Kind ein anderes Drei- oder Vier-Gänge-Menü zusammenstellen würde. Darum gebe es nun eines, das alle Kinder essen können.
Provinzstreit spaltet Regierung
Aus dem 400 Kilometer entfernten Paris kommt Unterstützung für die protestierenden Bauern aus den Rängen der Regierung. Innenminister Gérald Darmanin sprach von einer "skandalösen Ideologie". Andere Abgeordnete der eher konservativen Regierungspartei La République en Marche (LREM) sprangen ihm bei.
Agrar- und Ernährungsminister Julien Denormandie deklamierte, die Entscheidung sei aus sozialer Perspektive eine "Schande", weil sie vor allem die Kinder treffe, deren Familien sich kein Fleisch leisten könnten. Auf Twitter forderte er: "Hört auf, unseren Kindern Ideologie auf die Teller zu legen! Gebt ihnen einfach, was sie zum Wachsen brauchen. Fleisch gehört dazu." Dabei gibt es tierische Eiweiße weiterhin in Form von Eiern, Fisch und Milchprodukten.
Umweltministerin: "prähistorische Debatte"
Im Zweifel hätte er auch seine Kollegin Barbara Pompili fragen können, die dem thematisch benachbarten Umweltressort vorsteht. Dann hätte sich die Regierung vielleicht erspart, "in diese prähistorische Debatte zurückzufallen", wie die Umweltministerin es ausdrückte. Pompili wusste auch die These von der sozialen Ungerechtigkeit zu kontern: Studien zeigten nämlich, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien überdurchschnittlich viel Fleisch äßen.
Einige vermuten hinter dem Vorstoß des Lyoner Bürgermeisters den Wunsch auf muslimische Kinder Rücksicht zu nehmen, sollten sie kein Schweinefleisch essen. Das sieht auch Sabine von Oppeln so. Sie ist Frankreichexpertin an der Freien Universität Berlin. "Es geht um Kinder, die aus religiösen Gründen bestimmte Fleischarten nicht essen dürfen", die Politologin. "Das ist schon seit längerer Zeit in Frankreich eine Diskussion."
Macron ringt um Wähler
Der politische Hintergrund des Schauspiels könnte in der wackligen Wählergunst liegen, in der die Regierung von Präsident Emmanuel Macron steht. Bei den Gemeinderatswahlen im vergangenen Sommer gewann seine LREM in keiner der 40 größten Städte die Rathausspitze. Grüne Kandidaten verschiedener Parteien gewannen neben Lyon auch in Marseille, Bordeaux, Straßburg und anderen französische Großstädten. Aber auch die konservativen Republikaner, wie Nicolas Sarkozys UMP seit 2015 heißt, holten viele Rathäuser.
Macron reagierte auf das Wahldebakel und bildete ein neues Kabinett, um verlorene Wähler beider erfolgreichen Lager zurückzugewinnen. Dabei berief er einerseits Pompili, die neben LREM auch der Ökologie-Partei angehört, und andererseits Darmanin und Denormandie als konservative Gegenpole in ihre heutigen Ämter. Bereits einen Monat später, im August 2020, hatten sich Denormandie und Pompili das erste Mal in der Wolle - wegen der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels. Seither bemühen sie sich, ihre offenkundigen Gegensätze kleinzureden: Im Grunde sei man sich ja einig.
Tradition versus Multikultur
Insofern gehe es auf den Tellern der Kinder durchaus um Ideologie, deutet Politologin von Oppeln an, allerdings weniger für Bürgermeister Doucet, als für die beiden Regierungslager: "Hinter diesem Streit steht der Konflikt um die Verteidigung französischer Tradition gegen die Anerkennung kultureller Besonderheiten."
Doucet war nicht der Erste, der das Fleisch aus den Kantinen verbannte. Sein LREM-Vorgänger Gérard Collomb hatte es im vergangenen Jahr ebenfalls getan, als die erste Corona-Welle im Frühjahr das Land erfasste, erregte damit aber kein größeres Aufsehen. Wie damals, ist die fleischlose Zeit auch diesmal begrenzt. Zunächst auf sieben Wochen.