Frankreich: Premier Bayrous Überlebensstrategie
15. Januar 2025In Frankreich herrscht politischer Sturm - spätestens seit vergangenem Sommer. Im Juli gab es vorgezogene Parlamentswahlen, die für unklare Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung sorgten. Drei große Blöcke zogen ins Parlament in Paris ein. Die von Präsident Emmanuel Macron beauftragte Regierung hatte keine eigene Mehrheit.
So scheiterte der vorherige Premierminister Michel Barnier im Dezember an einem von der Opposition eingebrachten Misstrauensvotum bei der Abstimmung über den Haushalt 2025. Sein Nachfolger François Bayrou, Chef der Zentrumspartei Modem, hat die schwere Aufgabe geerbt, ein Land zu regieren, das eine gespaltene Gesellschaft und eine zersplitterte Parteienlandschaft hat.
Doch er nahm die Situation bei seiner Antrittsrede im Parlament am Dienstagnachmittag mit einer gewissen Leichtigkeit. "84 Prozent der Franzosen glauben nicht, dass die Regierung bis Ende des Jahres bestehen wird. Ich frage mich, wo die verbleibenden 16 Prozent ihren Optimismus hernehmen", sagte Bayrou mit einem verschmitzten Lächeln.
Die aktuelle Situation sei für seine Regierung aber auch eine Chance: "Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, hat man keine andere Wahl, als mutig zu sein", sagte Bayrou. In seiner Rede schnitt der Premierminister viele Themen an, sprach von Krankenhäusern, Frankreichs hohen Staatsschulden, Einwanderung, Parteienfinanzierung, Mehrheitswahlrecht und Landwirtschaft.
Hauptaugenmerk: Rentenreform
Doch das Hauptaugenmerk lag auf einem anderen Punkt: die umstrittene Rentenreform aus dem Jahr 2023, durch die das Mindest-Rentenalter von 62 schrittweise auf 64 Jahre steigen wird. Bayrou kündigte an, die längst beschlossene Reform erneut zur Debatte zu stellen. Offenbar versucht der Premier mit diesem Schritt, die Sozialistische Partei (PS) auf seine Seite zu ziehen.
"Der oberste Rechnungshof wird in Windeseile eine Analyse der aktuellen Situation unserer Rentenkassen erstellen. Darauf basierend haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände drei Monate Zeit, um hinter verschlossenen Türen - in einer Konklave - einen neuen Reform-Vorschlag zu erarbeiten", kündigte Bayrou an. Sogar eine Senkung des Rentenalters sei nicht mehr tabu - solange die Maßnahme gegenfinanziert werde.
Die PS hatte ein Stopp der Reform zur Bedingung für ihre Unterstützung gemacht. Premier Bayrou versucht es also mit einer anderen Methode als sein gescheiterter Vorgänger Barnier. Der war im Dezember auf den rechten Rand der Opposition in der Nationalversammlung zugegangen und hatte Marine Le Pens Rassemblement National (RN) zahlreiche Zugeständnisse gemacht. Beim Misstrauensvotum im Dezember stimmte die Rechtsaußenpartei trotzdem gegen ihn und ließ Barnier stürzen.
Die Sozialisten haben mit um die 60 zwar nur etwa halb so viele Abgeordnete wie der RN. Aber das würde reichen, um - zusammen mit den Zentrumsstimmen der Regierung - den Erfolg künftiger Misstrauensvoten zu verhindern.
Bisher sind die Sozialisten nicht überzeugt
Doch Bayrous Angebot ist der PS zu schwammig. "Wir werden der Regierung das Vertrauen entziehen, wenn sie uns keine klare Antwort gibt", sagte PS-Chef Olivier Faure dem Sender TF1. "Ich verlange vom Premierminister, dass er ganz klar sagt, dass die in der Konklave ausgearbeiteten Vorschläge auch dem Parlament vorgelegt werden."
Akut sollte es dadurch für die Regierung nicht brenzlig werden. Das Parlament wird zwar diesen Donnerstag über einen Misstrauensantrag entscheiden, den Abgeordnete der Linksaußenpartei Unbeugsames Frankreich (LFI), der Grünen und der Kommunisten gestellt haben. Doch hat der RN angekündigt, in dieser Runde nicht gegen die Regierung stimmen zu wollen.
Für künftige Abstimmungen jedoch gibt es keine Garantie. Das gilt insbesondere erneut für den Haushalt 2025, über den die Nationalversammlung ab Februar wieder debattiert.
Benjamin Morel, Dozent für öffentliches Recht an der Universität Paris 2 Panthéon-Assas, meint deswegen, die Regierung müsse deutlich mehr auf den Tisch legen, um sich den Rückhalt der Sozialisten zu sichern. "Letztere fordern zum Beispiel, die Streichung von 4000 Stellen im Bildungswesen aus dem Budget zu nehmen, und höhere Steuern für Reiche", sagte er der DW. "Ohne ganz konkrete Versprechen wird die PS auf keinen Fall das Risiko eingehen, sich von den anderen Mitgliedern des Linksbündnisses Neue Volksfront abzukoppeln."
Das Bündnis hatte sich überraschend kurz vor der Wahl im Sommer zusammengeschlossen. In der Neuen Volksfront sind vier Parteien aus dem linken Lager vereint, die sich sonst oft gestritten hatten: Neben den Sozialisten gehören die Linkspopulisten vom LFI, die Grünen und die Kommunisten an.
Der Kniff mit der Konklave
Sollte die Regierung wieder zu Fall kommen, könnte es für Präsident Macron noch schwieriger werden, einen neuen Premierminister zu finden. Manche - wie LFI und der RN - fordern bereits Macrons Rücktritt und vorgezogene Präsidentenwahlen.
Doch nicht jeder ist so kategorisch. Nicolas Rousselier, Geschichtsprofessor an der Pariser Universität Sciences Po, findet Bayrous Idee der Konklave sogar "gerissen". "Er benutzt die Methode der Sozialdemokratie aus Frankreichs Vierter Republik von 1945 bis 1958", sagte er der DW. Damals konzipierten christliche Demokraten und Sozialisten gemeinsam das französische Sozialsystem.
"Indem er nun Tarifpartner hinter verschlossenen Türen verhandeln lässt, verschafft er sich einerseits mehr Zeit", so Rousselier. "Denn die Sozialisten werden ja wohl nicht die Regierung sanktionieren, wenn das die Verhandlungen über ein gerechteres Rentensystem unterbrechen könnte. Andererseits muss das Parlament über jeglichen daraus hervorgehenden Gesetzesvorschlag vorbehaltlos verhandeln - schließlich würde dieser weder von Macron, noch Bayrou, noch anderen eventuellen politischen Gegnern kommen."
Wird Bayrou unterschätzt?
Laut Luc Rouban vom Pariser Zentrum für politische Forschung der Universität Sciences Po gebe die Methode gar den Sozialisten eine Gelegenheit, sich politisch neu zu orientieren. "Die PS will aus dem Fahrwasser der zu radikalen LFI heraus, um sich für die Präsidentenwahl 2027 mit einem eigenen Kandidaten aufzustellen. Wenn sie einen Pakt des Friedens mit Bayrou schließt, könnte sie dadurch mehr Wähler aus der Mitte anziehen", meint Rouban. "Und wenn sein Kalkül aufgeht, könnte das sogar für Bayrou den Weg zur Präsidentschaft ebnen. Das trauen ihm zwar wenige zu - aber sein großer Vorteil ist, dass ihn viele unterschätzen."
Dem stimmt Historiker Rousselier zu. Der Premierminister habe in seiner Rede Ideen der politischen Mitte wiedergegeben - mit christlichen, demokratischen und gemäßigten Aussagen. "In Zeiten der Polarisierung hat er keinen angegriffen und immer wieder gesagt, dass man mit allen Seiten sprechen muss. Er hat gezeigt, dass er mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht."
Dadurch könnte der Premierminister in ländlichen Gebieten Stimmen gewinnen - gerade bei den Wählern, die seit den frühen 2000er-Jahren zunehmend dem RN ihre Unterstützung gegeben haben, so Rousselier. Und Premier Bayrou sei, anders als RN-Kandidatin Le Pen, selbst auf dem Lande aufgewachsen - in einer Familie von Landwirten bei Pau im ländlichen Südwesten. "Das macht ihn authentischer", betont der Experte.