Folterprozess Koblenz: Auftritt einer Legende
28. August 2020Nur einen Steinwurf entfernt von der idyllischen Rheinpromenade liegt der schmucklose Saal 128 des Oberlandesgerichts Koblenz. Seit April wird hier über die Gräuel syrischer Folterkeller verhandelt – und über die Rolle des Hauptangeklagten Anwar R. im Unterdrückungssystem Assads. Es geht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 58-fachen Mord und Folter in mindestens 4000 Fällen.
Es ist ein Mammutprozess. Viele Zeugen haben bereits ausgesagt: Überlebende haben brutalste Folter und Entmenschlichung bezeugt. Ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter haben aus Sorge um ihre Sicherheit anonym und maskiert zum Foltergefängnis Al-Khatib in Damaskus ausgesagt. BKA-Ermittler wurden vernommen und Beamte des Außenministeriums. Am 26. Prozesstag schließlich trat diese Woche eine Symbolfigur der syrischen Opposition in den Zeugenstand: Riad Seif.
Vom Unternehmer zur Symbolfigur
Um diesen Zeugen zu sehen und zu hören ist der syrische Filmemacher Feras Fayyad eigens aus Berlin angereist. "Weil Riad Seif eine lange Geschichte mit dem syrischen Regime hat", erläutert Fayyad. Der 35-Jährige hatte selbst Anfang Juni als erstes Opfer zu den Misshandlungen in Al-Kathib ausgesagt. "Was Seif zu erzählen hat ist wichtig, um den Kontext des Konfliktes und des gewaltlosen Kampfes zu verstehen", betont der Mann mit dem früh ergrauten Haar.
Interessant ist der 73-jährige ehemalige syrische Vorzeigeunternehmer und langjährige Dissident nicht allein wegen seiner bewegenden Vita: Riad Seif hat eine wesentliche Rolle dabei gespielt, dass der frühere Geheimdienstoberst und Leiter von Al-Khatib Anwar R. 2014 mit einem Visum der deutschen Botschaft in Amman nach Deutschland einreisen konnte.
Die erstaunliche Wandlung des Anwar R.
Denn Anwar R. hatte eine erstaunliche Wandlung durchlaufen, nachdem er sich 2012 mit seiner Familie nach Jordanien abgesetzt hatte: Im Exil hatte sich der heute 57-Jährige der Opposition angeschlossen, hatte die Nähe zu Ahmad al-Jarba gesucht, dem damaligen Präsidenten der Syrischen Nationalen Koalition, und war 2014 sogar als Teil von Jarbas Delegation zur UN-Friedenskonferenz nach Genf gereist.
Diese Rolle in der Opposition hatte bereits am 4. Prozesstag eine Referentin des Berliner Außenministeriums dem Gericht bestätigt. Sie hatte Ende April auch angegeben, aus den Akten zu wissen, dass sich ein syrischer Oppositioneller für die Aufnahme R's in Deutschland eingesetzt habe. Dieser Oppositionelle war niemand anderes als Riad Seif.
Vernehmung per Video
Dessen Vernehmung muss per Video stattfinden: Der 73-jährige ist schwer krank, die Reise nach Koblenz unzumutbar. Deshalb sitzt Seif mit blauem Sakko, weißem Hemd und kurzgeschnittenem silbergrauen Haar vor einer Kamera im Berliner Landgericht, flankiert von Dolmetscherin und Anwalt.
Die Vorsitzende Richterin Anne Kerber befragt Seif zunächst zu seiner Geschichte. Und Riad Seif berichtet gerne: Wie er aus einfachen Verhältnissen kommend in den 1970er Jahren zum bedeutendsten Textilhersteller des Landes aufsteigt. Wie er in den 1990er Jahren mit dem deutschen Sportartikelhersteller Adidas zusammenarbeitet. Wie er eine Art Sozialpartnerschaft mit seinen Angestellten entwickelt, ein absolutes Novum in Syrien. Wie er, der bis dahin nur auf seine Arbeit konzentriert war und noch nicht einmal Zeitung gelesen habe, 1994 eher zufällig als Abgeordneter ins syrische Parlament gewählt wird. Und wie er alsbald in Konflikt mit den Mächtigen gerät.
Damaszener Frühling
Nach dem Tod des damaligen Machthabers Hafiz al-Assad im Sommer 2000, so berichtet Seif, habe er aus seinem Büro in Damaskus heraus den "Damaszener Frühling" mit initiiert. In seinem Haus gründete Seif das "Nationale Dialogforum". Jeden Mittwoch trafen sich dort Hunderte Menschen, interessiert an politischem Wandel, es gab Vorträge und Diskussionen. Nach dem Tod seines Vaters lässt der neue Machthaber Bashar al-Assad die neuen Ideen zunächst zu. Aber dann - so übersetzt die Dolmetscherin Seifs Worte – "bekam er Panik".
Als Seif trotz Warnungen eine politische Partei gründen will, wird er im September 2001 verhaftet. Er sitzt in Haft, als er 2003 mit dem Weimarer Friedenspreis geehrt wird. Erst im Januar 2006 kommt der Dissident wieder frei – aber seine Firma ist ruiniert. Die Haftzeit scheint seine Entschlossenheit eher noch bestärkt zu haben. Eine von Wikileaks veröffentlichte Depesche der amerikanischen Botschaft in Damaskus belegt, dass sich Seif nur wenige Tage nach seiner Entlassung mit US-Diplomaten traf. Demnach plante Seif erneut die Gründung einer Partei und erörterte, wie die USA den politischen Wandel in Syrien unterstützen könnten.
Mordversuche
Seif spricht von wiederholten Verhaftungen, von Warnungen, sich weder mit Diplomaten zu treffen noch mit Journalisten - und von weiteren Verhaftungen. An den Demonstrationen im Frühjahr 2011 nimmt er von Anfang an teil. Seif erzählt, wie er von Schlägertrupps angegriffen wurde, zum Beispiel im Herbst 2011. "Man wollte mich umbringen. Leute schlugen mit Eisenstangen auf mich ein".
Manchmal lässt die Krankheit Seifs rechte Hand zittern, aber seine Stimme ist fest. Erst als die Richterin ihn nach seiner Flucht aus Syrien befragt, bricht der bis dahin so starke Mann in Tränen aus. Die Sitzung wird kurz unterbrochen.
Seif weiß noch genau: Es war der 13. Juni 2012, als er seine Heimat verlies. In der Nacht zuvor sei auf sein Haus geschossen worden. Zunächst sei er nach Kairo gereist, von dort weiter nach Berlin.
Dort trifft Seif im August den damaligen Außenminister Guido Westerwelle. "Ich schätze an Riad Seif sein engagiertes und selbstloses Eintreten für ein demokratisches, ziviles und soziales Syrien", sagte Westerwelle über Seif, der schnell zu einem der wichtigsten Akteure der syrischen Exilopposition wird.
Hilfe für den Überläufer
Im selben Jahr hörte Seif erstmals von Anwar R.. Der Kontakt kam über einen langjährigen Freund seines Sohnes aus Geheimdienstkreisen zu Stande. Der hätte berichtet, ein übergelaufener Geheimdienstoberst sei in Jordanien gestrandet und fürchte dort um sein Leben.
Riad Seif wollte helfen. Er leitete R.'s Unterlagen an das Auswärtige Amt weiter. Die Opposition sei generell an Überläufern interessiert gewesen. Und: Man habe sich wichtige Informationen von R. erhofft. Die aber habe Anwar R. nie geliefert, stellt Riad Seif klar.
Seif hat eine Vermutung, warum Anwar R. dem Assad-Regime den Rücken gekehrt haben könnte: R. stammt aus Hula, dem Ort des ersten größeren Massakers im syrischen Bürgerkrieg. Im Mai 2012 wurden dort über 100 Menschen getötet. Seif vermutet, Anwar R.'s Familie könne auf ihn Druck ausgeübt haben, seine Arbeit für das Regime zu beenden.
Ein Prozess, der bewegt
Die syrischen Zuschauer im Gerichtssaal nehmen Anwar R. seine Wandlung zum Oppositionellen allerdings nicht ab. Üblicherweise hätten Überläufer sich offen vom Regime losgesagt, vor der Kamera, heißt es. Sie hätten ihre Dienstausweise und andere Insignien ihrer Macht und ihrer Ämter vorgelegt und klar erklärt, warum sie dem Regime den Rücken kehren. Von Anwar R., betonten die Exilsyrer, gebe es kein solches Video.
Vom Zeugen Riad Seif sind die Prozessbeobachter an diesem Tag tief beeindruckt. Er steht ausführlich Rede und Antwort, trotz seines Gesundheitszustandes. Am Ende eines langen Tages vor Gericht lässt dann aber auch Seifs Konzentration nach. Nach mehr als vier Stunden beendet die Richterin die Zeugenbefragung. Riad Seif sieht erschöpft aus. Es ist ein Prozess, der alle Beteiligten tief bewegt.