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Folter und Todesstrafe: Wird Gewalt in Russland legalisiert?

Alexey Strelnikov
29. März 2024

Nach dem Terroranschlag bei Moskau befürworten immer mehr Menschen in Russland staatliche Gewalt. Das reicht von Misshandlungen Gefangener bis zu Hinrichtungen.

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Verdächtige des Terroranschlags auf die Crocus City Hall werden von maskierten Sicherheitskräften in einen Gerichtssaal in Moskau geführt
Verdächtige des Terroranschlags auf die Crocus City Hall werden in einen Gerichtssaal in Moskau geführtBild: Shamil Zhumatov/REUTERS

Die russischen Behörden haben bisher keine Einwände dagegen erhoben, dass Sicherheitskräfte die Verdächtigen des Terroranschlags auf die Crocus City Hall nahe Moskau mutmaßlich äußerst grausam behandelt haben. Früher beteuerten Regierungsvertreter regelmäßig, Folter in Untersuchungsgefängnissen werde bekämpft und entsprechende Taten bestraft.

Acht Verdächtige stehen wegen des Überfalls auf die Veranstaltungshalle vor Gericht, bei dem mehr als 140 Menschen getötet und 182 weitere verletzt wurden. Bisher wurden elf Personen festgenommen, vier davon nur wenige Stunden nach dem Anschlag. Vor Gericht erschienen sie von Gewalt gezeichnet. So wurde einer von ihnen auf einer Trage und mit einem Katheter in den Gerichtssaal gebracht, ein anderer mit Resten einer Plastiktüte um den Hals - als sei ihm die Luft zum Atmen genommen worden. Mehrere Telegram-Kanäle hatten außerdem Aufnahmen von einem der Festgenommenen veröffentlicht, dem das Ohr abgeschnitten wurde. Zu sehen ist, wie versucht wird, ihm dieses Ohr in den Mund zu stecken, während ein anderer Verdächtiger mit Elektroschocks gequält wird.

Die ausgebrannte Crocus City Hall in Krasnogorsk nahe Moskau nach dem Terroranschlag und den Löscharbeiten
Die Crocus City Hall in Krasnogorsk nahe Moskau nach dem TerroranschlagBild: Vyacheslav Prokofyev/picture alliance/dpa/TASS

Russische Behördenvertreter machen keinen Hehl daraus, dass die Verdächtigen misshandelt wurden. "Wir werden diese Frage nicht beantworten", sagte Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow, als er vom US-amerikanischen TV-Sender CNN gefragt wurde, ob die Männer Folter ausgesetzt waren. Zudem hieß es vom russischen Verteidigungsministerium, dass vier Militärangehörige ausgezeichnet worden seien, die sich "bei der Verhaftung von Terroristen hervorgetan haben, die an dem Überfall auf die Crocus City Hall beteiligt waren".

Eigentlich sehen die russischen Gesetze eine Bestrafung von Beamten vor, die Folter anwenden. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu zwölf Jahren. Außerdem verbieten internationale Menschenrechtsabkommen Folter. Russland hat die meisten von ihnen ratifiziert und ist verpflichtet, dieses Verbot umzusetzen.

Folter droht zur Routine im Staat Putins zu werden

Wenn Misshandlungen ungestraft blieben, insbesondere, wenn Vertreter des Staates sie ausübten, dann werde die Strafverfolgung zunehmend ausgehöhlt. Das betont Sergej Babinez, Leiter des "Teams gegen Folter", einer russischen Menschenrechtsorganisation, die Beschwerden gegen Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlung untersucht.

Solche Grausamkeiten könnten künftig immer mehr Menschen widerfahren, so Babinez - zunächst nur in Fällen mutmaßlichen Terrors, dann im Rahmen anderer Straftaten und schließlich bei der Festnahme wegen geringfügiger Vergehen. "Am häufigsten wird Folter gegen Verdächtige angewandt, also bei Menschen, die nicht durch ein Gerichtsurteil für schuldig befunden wurden und vielleicht nichts mit der Sache zu tun haben", erklärt Babinez.  Die Anwendung öffentlicher Gewalt sei für die russischen Behörden ein Mittel zur Selbstbestätigung.

Maskierte Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB führen einen Verdächtigen im Gerichtsgebäude ab
Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB führen einen Verdächtigen im Gerichtsgebäude abBild: Artyom Geodakyan/TASS/IMGAO

Die russische Öffentlichkeit wünsche sich, dass der Anschlag auf die Crocus City Hall aufgeklärt werde. Das sagt Igor Kaljapin, der früher dem Rat für Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte beim russischen Präsidenten angehörte. Wenn aber jede Aussage durch Folter erzwungen werden könne, sei eine solche Untersuchung kaum glaubwürdig, betont der Aktivist. Das untergrabe das Vertrauen in die Behörden. Er klagt: "Wir sind von einer Diktatur der Täuschung zu einer Diktatur der Angst geworden."

Allerdings akzeptiere die russische Gesellschaft zunehmend gesetzwidrige Gewalt und nehme sie als "Routine" wahr, sagt Alexej Lewinson vom russischen Lewada-Forschungszentrum. Es gilt als das einzige vom russischen Staat oder staatlichen Zuschüssen unabhängige Meinungsforschungsinstitut. 2016 wurde es in Russland als "ausländischer Agent" eingestuft. Mit dieser Maßnahme werden regierungskritische Organisationen und Personen drangsaliert. Der Soziologe Lewinson betont, dass staatlich erlaubte Folter die Unverletzlichkeit der menschlichen Person und des Körpers in Frage stellt. "Ein Teil der Öffentlichkeit glaubt die Behauptung, dass sich der 'Feind' über alle menschlichen Gesetze gestellt habe. Deshalb könne man mit ihm machen, was man wolle."

Immer mehr Befürworter der Todesstrafe in Russland

Nach Angaben des Lewada-Zentrums akzeptieren immer mehr Russinnen und Russen eine legale Gewaltanwendung bis hin zur Todesstrafe. Im Jahr 2021 sprachen sich demnach 41 Prozent der Befragten für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus, während es im Jahr 2015 noch 31 Prozent waren. Und die Zahl der Befürworter werde weiter steigen, vermutet Lewinson.

Die Gefahr sieht auch der russische Anwalt Iwan Pawlow vom  Menschenrechtsprojekt "Perwyj Otdel". Die Initiative befasst sich vor allem mit Prozessen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, und sie verteidigt Angeklagte in Strafsachen wegen Hochverrats, Spionage und Extremismus. Inzwischen gehe man in den Behörden davon aus, dass die Menschen in Russland mit der Todesstrafe einverstanden wären, sagt Pawlow.

Die russische Verfassung von 1993 definiert die Todesstrafe "bis zu ihrer Aufhebung durch ein Föderales Gesetz als außerordentliche Maßnahme". So wurde das Ziel festgeschrieben, die Todesstrafe abzuschaffen. 1997 wurde die Todesstrafe unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin per Moratorium ausgesetzt. Wer sie wieder verhängen wollte, scheiterte darum bislang am Verfassungsgericht.

Dessen Pressestelle teilte allerdings jüngst der Nachrichtenagentur Interfax mit, dass man sich vorerst zur Wiederanwendung der Todesstrafe nicht äußern wolle, da diese Frage "zum Gegenstand einer Prüfung durch das Verfassungsgericht der Russischen Föderation werden könnte".

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk