Flüchtlingskinder leiden unbemerkt
21. März 2017Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in Deutschland von der Jugendhilfe in Obhut genommen, für sie gelten besondere Regeln. Was aber geschieht mit Kindern und Jugendlichen, die mit ihren Familien kommen? Rund 350.000 Kinder und Jugendliche sind 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen. Sie leben mit ihren Familien in deutschen Flüchtlingsunterkünften. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und der Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (bumf) beklagen in ihrer Studie, "Kindheit im Wartezustand", dass die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen nicht kindgerecht ist und sie viel zu lange in für sie schädlichen Umständen leben. Ein Gespräch mit Ninja Charbonneau, Pressesprecherin bei UNICEF Deutschland.
DW: In Ihrer Studie haben Sie untersucht, wie es Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland geht. Was ist Ihr Fazit?
Ninja Charbonneau: Allgemein ist es so, dass viele Mädchen und Jungen, die mit ihren Familien geflüchtet sind, viel zu lange Zeit in den Flüchtlingsunterkünften verbringen. Die Lage ist von Heim zu Heim, von Ort zu Ort, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich und es wird vielerorts gute und sehr engagierte Arbeit geleistet. Aber wir stellen eben auch fest, dass es nach wie vor viele Kinder und Jugendliche gibt, die nicht sicher und nicht kindgerecht untergebracht sind.
Warum sind begleitete Kinder und Jugendliche gefährdet?
Begleitete Minderjährige werden als Anhängsel ihrer Eltern behandelt und deshalb oft übersehen - deshalb wollen wir mit der Studie auf ihre Situation aufmerksam machen. Begleitete geflüchtete Mädchen und Jungen werden nicht von den Jugendämtern in Obhut genommen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, für sie gilt die volle Härte der Asylgesetzgebung. Das kann unter anderem dazu führen, dass viele von ihnen sehr lange Zeit - Monate oder sogar Jahre - in großen Unterkünften verbringen müssen und sich der Zugang zu Bildung verzögert.
Welche Probleme gibt es in den Unterkünften?
Die Kinder und Jugendlichen sind oft nicht ausreichend geschützt, weil es zum Beispiel nicht überall abschließbare Räume oder Toiletten und Duschen gibt. Teilweise sind die hygienischen Bedingungen vor Ort nicht gut. Hinzu kommt, dass es allgemein sehr schwierig ist, weil die Kinder mit vielen fremden Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen. Es gibt wenig Ruhe, wenig Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten.
Wie oft kommt es zu Übergriffen an Kindern und Jugendlichen in den Unterkünften?
Es gibt keine verlässlichen Statistiken - dokumentiert werden wenn überhaupt nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht werden, und das wird nur ein kleiner Teil sein. Und jeder einzelne Fall ist einer zu viel. Grundsätzlich ist aber auch schon das Gefühl der Unsicherheit ein Problem: Viele Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften berichten, dass die Kinder und Jugendlichen Gewalt miterleben oder sich nicht sicher fühlen. Viele von ihnen sind vor Krieg, vor Gewalt geflohen, haben eine lange Flucht hinter sich und müssen zur Ruhe kommen, brauchen Stabilität. Allein das Gefühl, dass sie nicht geborgen sind, ist für ihre Entwicklung sehr schädlich.Gibt es Orte, wo die Lage besonders ernst ist?
Das kann man pauschal nicht sagen. Generell gibt es nämlich auch keine verlässlichen Daten darüber, wie viele Kinder und Jugendliche in den einzelnen Ländern in den Unterkünften untergebracht sind, oder darüber, wie gut diese geführt werden. Diese Datenlage muss dringend verbessert werden.
Die UN-Kinderrechtskonvention besagt: alle Kinder haben die gleichen Rechte und Anspruch auf Schutz und Bildung. Wie ist es um diese Rechte für die Flüchtlingskinder in Deutschland bestellt?
Wir stellen fest, dass es um eine große Gruppe von geflüchteten Kindern und Jugendlichen nicht gut bestellt ist. Bildung ist in Deutschland Ländersache - es wird unterschiedlich gehandhabt, ab wann die Kinder schulpflichtig sind und daher einen Anspruch auf einen Schulplatz haben. In einigen Bundesländern setzt die Schulpflicht erst ein, wenn die Familien von einer Erstaufnahme auf eine Kommune verteilt wurden - aber das kann unter Umständen mehrere Monate dauern. Das ist eine wertvolle Zeit, die hier für diese Kinder verloren geht.
Wie lange müssen die Kinder in den Erstaufnahmezentren verbringen?
Viele Kinder müssen mehrere Monate, manche sogar über ein Jahr in den großen Flüchtlingsunterkünften bleiben. Das variiert auch nach Herkunftsland und der angenommenen Bleibeperspektive. Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern können unbefristet verpflichtet werden, in einer Aufnahmeeinrichtung zu bleiben. Für die anderen gilt nach aktueller Gesetzeslage die maximale Dauer von sechs Monaten in einer Erstaufnahmeeinrichtung.
Der aktuell diskutierte Gesetzesentwurf zur „besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" könnte dazu führen, dass der Personenkreis ausgeweitet wird, der mehr als sechs Monate in Aufnahmeeinrichtungen verbringen muss. Das ist für uns ein Schritt in die falsche Richtung: Kinder und Jugendliche sollten nur so kurz wie möglich in den großen Sammelunterkünften bleiben und dann möglichst schnell in kleinere Gemeinschaftsunterkünfte oder Wohnungen umziehen. Außerdem müssen sie so schnell wie möglich Zugang zu Bildung und Ausbildungsmöglichkeiten bekommen.
Im vergangenen Jahr sind deutlich weniger Flüchtlinge in Deutschland angekommen als noch 2015. Hat der Rückgang der Zahlen zu einer Entlastung in den Unterbringungen geführt?
Jein. Wir sehen, dass vielerorts in Deutschland die Notstrukturen fortbestehen. Es sind zwar in vielen Gegenden die Notunterkünfte geschlossen worden, aber viele bestehen eben noch weiter. Wir beobachten, dass immer noch Kinder und Jugendliche mit ihren Familien zusammen häufig über viele Monate in solchen Unterkünften leben - teilweise auch nach wie vor in umfunktionierten Turn- oder Messehallen.
Viele Flüchtlinge haben eine traumatische Flucht hinter sich – waren in den Händen von Schleppern oder haben Leid und Elend gesehen. Werden betroffene Kinder und Jugendliche in den Flüchtlingsunterkünften betreut?
Nicht flächendeckend. Eine Fluchterfahrung ist generell traumatisch für ein Kind. Sie ist ein abrupter Abbruch des bisher Gekannten. Nicht jedes Kind entwickelt dadurch im medizinischen Sinn ein Trauma, aber die Flucht bedeutet für alle Kinder und Jugendlichen eine Ausnahmesituation mit viel Stress. Daher ist es enorm wichtig, dass die Kinder von Anfang an psychosozial betreut werden. Das ist aber nur teilweise der Fall und nicht der Standard. Wir hören auch, dass wenn Kinder eine richtige Therapie benötigen, dies mit langen Wartezeiten verbunden ist.
Was empfehlen Sie?
Kinder sollten grundsätzlich nur so kurz wie möglich in großen Unterkünften untergebracht sein. Falls dies organisatorisch nicht anders möglich ist, dann sollten verbindliche Mindeststandards gelten für jede Unterkunft, in der sich Kinder und Jugendliche aufhalten: Mit Schutzmechanismen, auch was die baulichen Voraussetzungen betrifft. Sprich: getrennte Toiletten und abschließbare Räume. Es sollte auch unabhängige Ansprechpartner geben, an die sich Kinder wenden können.
Dafür wäre eine bundesgesetzliche Regelung notwendig, die festschreibt, dass es überall Mindeststandards zum Schutz von Frauen, Kindern und Jugendlichen in den Flüchtlingsunterkünften geben muss. Außerdem sollte in allen Bundesländern gelten, dass die Kinder so schnell wie möglich zur Schule oder in die Kita gehen oder eine Ausbildung machen können. Das ist nicht nur für die Kinder wichtig, sondern auch eine gute Investition in unsere Gesellschaft.