Geflüchtet und vertrieben
1. Juni 2012Als das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) vor mehr als 60 Jahren seine Arbeit aufnahm, dachte die Staatengemeinschaft noch, das Flüchtlingsproblem innerhalb weniger Jahre aus der Welt schaffen zu können. Doch weit gefehlt: 43 Millionen Menschen leben heute fern ihrer Heimat als Flüchtlinge und Vertriebene. Und es werden immer mehr: "Es gibt zwar durchaus Flüchtlingskapitel, die abgeschlossen werden“ sagt Adrian Edwards, Sprecher des UNHCR in Genf, "aber unterm Strich bringt die Welt immer noch mehr Vertreibung hervor als Lösungen für die Vertriebenen." Deshalb nehme die Zahl der Flüchtlinge tendenziell zu, so Edwards.
Mehr Flüchtlinge - weniger Sicherheit
Gewalt, Hungersnöte und Klimawandel werden in den kommenden zehn Jahren Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertreiben, prophezeit das UNHCR in seiner gerade veröffentlichten Langzeit-Analyse zur "Lage der Flüchtlinge in der Welt". Unzählige Vertriebene würden weiter im Langzeit-Exil verharren müssen, ohne Aussicht auf Rückkehr, oder Umsiedlung, oder Integration an ihrem Zufluchtsort.
Außerdem wird es immer schwieriger, die Betroffenen auch zu erreichen. Es sei zwar noch nie ungefährlich gewesen, in Konfliktregionen humanitäre Hilfe zu leisten, aber der Zugang sei unberechenbarer und unsicherer geworden, berichtet Volker Türk, Direktor der Abteilung Flüchtlingsschutz im UNHCR. "In vielen Kriegs- und Nachkriegssituationen haben wir heute Akteure, die sich nicht mehr auf herkömmliche Art und Weise organisieren. Wir haben es mit neuen privaten Akteuren zu tun“, stellt er fest. "Oft sehen wir eine Kombination aus Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen und kriminellen Motiven. Dahinter ständen dann nicht unbedingt politische Gründe, sondern es könne es sich auch um organisierte Kriminalität handeln. In Ländern wie Kolumbien und dem Irak zeige sich dies ganz deutlich.
Hilfe wird schwieriger
Den Trend zur veränderten Natur der Konflikte erfährt auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bei seiner Arbeit in den Krisengebieten dieser Welt. "Wir registrieren tatsächlich immer häufiger willkürliche Angriffe auf humanitäre Helfer“, erklärt Sébastien Carliez vom IKRK in Genf. "Es ist leider wahr, dass dieser Mangel an Sicherheit in letzter Konsequenz zu einer noch größeren Isolierung der Opfer führt."
Insgesamt geht das UNHCR von weltweit etwa 16 Millionen offiziell anerkannten Flüchtlingen aus. Fast doppelt so viele Menschen, nämlich mehr als 26 Millionen, leben als Binnenvertriebene in ihren eigenen Heimatländern. Die heikelste Gruppe von Vertriebenen, für deren Anliegen sich das UNHCR stark macht, seien die Asylsuchenden. Etwa eine Million von ihnen gibt derzeit es in der ganzen Welt.
Die menschliche Dimension der Flucht
"Wenn wir heute einen Zwischenstand skizzieren sollten, wo die Welt in Sachen Asylgewährung steht, dann ergäbe das ein sehr gemischtes Bild“ sagt Volker Türk. "Auf der einen Seite sehen wir im Asylwesen eine unglaubliche Großzügigkeit von Mensch zu Mensch und von Gemeinschaft zu Gemeinschaft." Das habe sich etwa bei der Aufnahme von libyschen Flüchtlingen in Tunesien oder von fliehenden Syrern in Jordanien gezeigt. In Europa aber sei der Umgang mit Asylsuchenden ein ganz anderer: "Was wir sehen, ist ein sehr detailliert ausgearbeiteter rechtlicher Rahmen, der manchmal den Blick auf die menschliche Dimension der Flucht verstellt.“
In vielen der aktuellen Konfliktsituationen, vom Irak über Afghanistan bis nach Somalia, zeichnet sich keine Lösung ab. Die Tendenz zum Langzeitkonflikt, der sich über zehn und mehr Jahre hinstreckt, ist ungebrochen. Damit scheidet die Option einer freiwilligen Rückkehr in diese Länder aus. Das war in den 1990er Jahren noch anders. Doch das "Jahrzehnt der freiwilligen Rückkehrer“ - wie das UNHCR diese Jahre rückblickend nennt - ist vorbei. Die Rückkehrer-Zahlen sind seitdem massiv eingebrochen.
Auf der Suche nach Solidarität
Langanhaltende Konflikte führen zu langanhaltendem Exil. Und dieser Aufgabe sollte sich die internationale Staatengemeinschaft gemeinsam stellen, heißt es beim UNHCR. Auf dem Gebiet der Lastenteilung könne und müsse sehr viel mehr getan werden, fordert Volker Türk."Wenn es in der Welt von heute mit ihren globalen Herausforderungen etwas gibt, das wir dringend brauchen, dann ist es Solidarität auf allen Ebenen.“
Die Lösung des Flüchtlingsproblems dürfe nicht allein den armen Ländern aufgebürdet werden. Die reiche Welt müsse sich klar machen, dass 80% der Flüchtlinge dieser Welt in Entwicklungsländern Schutz gefunden haben.