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Falsche Töne tun weh - nicht nur dem Publikum

23. November 2009

Früher galten Menschen, die über das absolute Gehör verfügen, geradezu als musikalische Genies. Heute weiß man – Musiker haben es damit vielfach leichter, aber es gibt auch Probleme.

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Baby mit Kopfhörer (Foto:dpa)
Absolutes oder relatives Gehör?Bild: dpa

Geoffrey Winter hat als Kind bei seinem Vater unterm Flügel gesessen und schon früh Melodien, denen er dort lauschte, nachgesungen. Susanne Patitz hat in der Schule festgestellt, dass sie Töne völlig problemlos erkennen kann. Heute sind beide Profimusiker im Bonner Beethovenorchester und erleben die Gabe des Absoluthörens als Vorteil und Belastung zugleich. "Ich habe den Tor im Ohr, bevor ich ihn spiele", sagt Winter. "Im Orchester kann es ein großer Vorteil sein", meint Susanne Patitz. Absoluthören vereinfacht das genaue und saubere Spiel, das Erkennen und Wiedererkennen von Kompositionen, das Auswendiglernen, das Musizieren vom Blatt.

Hoch, tief, schmerzhaft

Susanne Patitz, Bratschistin im Beethoven-Orchester Bonn (Foto: Beethovenorchester)
Susanne PatitzBild: Beethovenorchester

Doch auf Tonschwankungen, Veränderung der Instrumentenstimmung oder Unsauberkeiten im Ensemble oder im Chor reagieren Absoluthörer äußerst sensibel. Sind die Kollegen etwas zu hoch oder zu tief geht Hornist Geoffrey Winter musikalisch mit – zähneknirschend, wie er sagt. "Ich weiß dann, dass es nicht stimmt. Und das ist manchmal sehr schmerzhaft," Wer ein Streichinstrument spielt hat es besonders schwer. Denn hier werden Töne auf dem Griffbrett gegriffen und alles muss auf den Millimeter genau stimmen. Werden Geige, Bratsche oder Cello – zum Beispiel in der Barockmusik – tiefer gestimmt als die üblichen 444 Hertz des so genannten Kammertons, so gibt es eine irritierende Reibung zwischen dem gewohnten Ton "im Ohr" und dem Ton, der auf dem Instrument produziert wird.

Der innere Knopf

Für Susanne Patitz hatte dies Folgen. Sie kann Barockmusik nicht spielen. "Ich hatte mal eine Einladung, in der Kirche zu musizieren, die Probe kam, die Orgel gab das ‚a’, und es war völlig klar, dass ich keine Chance habe. Ich habe die Bratsche tiefer gestimmt. Aber in dem Moment, wo ich angefangen habe zu spielen, habe ich automatisch den Ausgleich über die Finger gemacht. Ich habe dann den Halbton höher gegriffen, den ich eigentlich gerade runter gestimmt habe." Auch wenn die Bratschistin bei anderen Orchestern gastiert muss sie ihr Gehör neu einstellen: "Ich stehe dann im Hotel und spiele leere Saiten, viele reine Intervalle, Quarten, Quinten, Oktaven. Und drehe an meinem inneren Knopf."

Stress im Alltag

Geoffrey Winter, Hornist im Beethoven-Orchester Bonn (Foto: Beethovenorchester)
Geoffrey WinterBild: Beethovenorchester

Alltagsgeräusche, Autolärm, Sirenen, aber auch die ständige Musikberieselung können bei absolut Hörenden Stress verursachen. Susanne Patitz findet das einfach nur nervig und versucht, solche Geräuschquellen möglichst auszublenden. Hornist Winter hält das Gedudel oft nicht aus. Und wenn dann klassische Musik in einer Pop-Version erklingt ist sein Unbehagen besonders groß. "Ich habe mal im Aufzug eine Bearbeitung von Tschaikowskys Klavierkonzert gehört. Im falschen Metrum und einer falschen Tonart! Es war nicht zu ertragen! Ich musste einfach raus."

Auf Flügeln

Musik, so scheint es, kann beflügeln, aber auch zur Bürde werden. Ganz entspannt einfach mal zuhören wenn andere musizieren – das fällt Susanne Patitz und ihrem absoluten Gehör schwer. "Ich erlebe, dass mich 90 Prozent der Musik leider nicht so befriedigen. Ich habe dann eher so ein Missbehagen im Bauch. Aber wenn die anderen 10 Prozent kommen, dann geht die Welt auf." Aber leider, so sagt sie, komme dies nur selten vor.

Autorin: Cornelia Rabitz

Redaktion: Conny Paul