Mordprozess ohne Hintermänner
7. Juni 2022Es war ein Mord nach Mafiamanier. Im Juli vorigen Jahres wurde in Amsterdam der Kriminalreporter Peter de Vries auf offener Straße mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Er war einer der bekanntesten Kriminaljournalisten der Niederlande und sein Tod rief Schock und eine Welle der öffentlichen Anteilnahme hervor. Schnell fiel der Verdacht auf eine der mächtigsten örtlichen Drogengangs - aber vor Gericht stehen jetzt nur die Tatverdächtigen, nicht die mutmaßlichen Hintermänner.
Höchste Sicherheitsstufe
Im sogenannten "Gerichtsbunker", einem hochgesicherten Klinkerbau am Stadtrand von Amsterdam, beginnt das Verfahren gegen zwei Männer, die die Polizei nur Stunden nach der Tat festgenommen hatte: Hinter Panzerglas sitzen im Gerichtssaal der 22-jährige Niederländer Delano G., der die tödlichen Schüsse abgefeuert, und Kamil E., ein 36-jähriger polnischer Staatsangehöriger, der das Fluchtauto gefahren haben soll.
Die Staatsanwaltschaft glaubt, ihre Beweise seien "stark" genug für eine Verurteilung. Im Wagen der beiden Beschuldigten wurde unter anderem die modifizierte Pistole gefunden, mit der auf Peter de Vries geschossen wurde. Es gibt DNA der Angeklagten, Videoaufnahmen und Textnachrichten von einem verschlüsselten Handy, in denen sie sich über ihre Pläne ausgetauscht hatten: "Ich finish das", hieß eine davon.
Der mutmaßliche Todesschütze hat sich bisher zu den Tatvorwürfen nicht geäußert und sein polnischer Komplize leugnet, etwas damit zu tun zu haben. Öffentlichkeit und Presse aber gehen davon aus, dass hier nur die Handlanger des Mordes vor Gericht stehen und die Auftraggeber noch nicht identifiziert wurden. Die Staatsanwaltschaft ermittele weiter, erklären die Behörden dazu.
Sind die "Todesengel" die Auftraggeber?
Dabei richtete sich der Verdacht von Anfang an gegen die sogenannten "Todesengel", die berüchtigte Drogenbande von Ridouan Taghi, gegen die seit über zwei Jahren ein Verfahren wegen mehrerer Morde und Mordversuche läuft. Taghi galt als einer der größten Kokainimporteure Europas, der seine Ware über den holländischen Hafen Rotterdam wie über Antwerpen im benachbarten Belgien nach Europa verschiffte.
"Taghi orderte Morde wie Kaffee", so berichtete das niederländische "Algemeen Dagblad" nach dessen Verhaftung 2019. Seitdem sitzt er in im Hochsicherheitsgefängnis von Vught, soll aber von dort aus weiter die Geschäfte der Bande steuern.
Peter de Vries war dem Drogenboss in die Quere gekommen, weil er sich dem Kronzeugen in diesem Prozess als Berater angedient hatte. Nadil B. arbeitet nach der Abkehr von seiner früheren Gang mit der Justiz zusammen und gilt als wichtiger Informant im Prozess gegen Taghi.
Aber der Preis für seine Aussagen ist hoch. Sein eigener Bruder und sein Anwalt Dirk Wiersum fielen jeweils Mordanschlägen zum Opfer. Und es wird vermutet, dass Peter de Vries das jüngste Opfer in dieser Serie war.
Die Staatsanwaltschaft ermittele weiter zu den Hintergründen der Tat, heißt es offiziell. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich die Angst der Behörden vor weiteren Anschlägen. Deshalb werden alle 88 Zeugen im Verfahren gegen die beiden Angeklagten im Fall de Vries nur anonym aussagen und die Namen der Staatsanwälte dürfen nicht genannt werden.
Auch im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Drogenboss Taghi und seine Bande werden weitere Mordversuche befürchtet: Die neuen Anwälte des Kronzeugen Nabil B. stehen unter dem Schutz von schwerbewaffneten Polizisten. In einem Interview mit der französischen Zeitung "Le Monde" sprachen sie vom Kokainhandel als einem internationalen Problem, sowohl beim Konsum als bei den Handelsrouten.
Ganz Europa werde sich damit auseinandersetzen müssen, und Anwalt Peter Schouten fügte hinzu: "Richter, Staatsanwälte, Verdächtige, Familien, Journalisten, alle haben Angst." Auch Peter de Vries hatte Warnungen erhalten, den angebotenen Polizeischutz aber abgelehnt.
Niederlande und Belgien Drogenhandel-Spitzenreiter
Nach dem jüngsten Bericht von Europol zum Drogenhandel in Europa stehen Belgien und die Niederlande weiter an der Spitze der Umschlagplätze. Über die beiden Häfen Antwerpen und Rotterdam kommen demnach 65 Prozent des Kokains nach Europa, das von der Polizei beschlagnahmt wurde. Im vorigen Jahr fiel ihnen mit rund 240 Tonnen eine Rekordmenge des weißen Pulvers in die Hände. Weltweit stehen beide Länder damit auf Platz fünf und sechs der Statistik.
Detailliert schildern die Ermittler die verschiedenen Methoden, wie das Kokain ins Land gebracht wird. Da werden ganze Container ausgetauscht, verstecken sich Helfer in leeren Containern im Hafengelände, um die Drogen schnell umzuladen, findet sich Kokain in Waschmaschinen, Bananenkisten oder sogar in Jeans, aus denen das Rauschgift dann später ausgewaschen wird. Die Banden seien sehr "kreativ", heißt es im Europol-Bericht.
In allen Fällen aber sind Korruption und Einschüchterung in den Häfen, bei Polizei und Behörden im Spiel, wie Kriminalisten feststellen. Und auf die Korruption folgt die Geldwäsche, durch die Drogenhändler weitere Kreise der Gesellschaft infiltrieren.
Im Verfahren gegen eine andere Drogengang in den Niederlanden, das irisch-stämmige sogenannte Kinahan-Kartell, kamen unlängst Listen von Hafenarbeitern, Zollbeamten und anderen öffentlichen Bediensteten ans Licht, die von den Kriminellen als mögliche Ziele für eine Anwerbung geführt wurden. Ein Kranführer könne schnell 100.000 Euro verdienen, wenn er dabei hilft, Container mit heißer Ware auszutauschen, so wird berichtet.
Und mit der Korruption kommt die Gewalt. "Die offene Gewalt der Mafiabanden grenzt an Terrorismus", beschreibt der belgische Generalstaatsanwalt Frederic van Leeuw die Bedrohung der Gesellschaft durch die Drogenkriminalität. Und die offenen Grenzen in der EU, insbesondere zwischen Belgien und den Niederlanden, erleichtern den Gangs die Arbeit.
Sie profitieren von der perfekten Infrastruktur der Region, denn die organisierte Drogenkriminalität arbeitet längst grenzüberschreitend. Dabei verzeichnet die niederländische Polizei auch Erfolge. Die Strafverfolgung der Kinahan-Gang war nur ein Beispiel, es gibt immer wieder einzelne Ermittlungserfolge und die europäischen Polizeibehörden haben ihre Zusammenarbeit verstärkt.
Dennoch bleibt der Mord an dem populären Reporter und Autor Peter de Vries eine offene Herausforderung an die niederländische Staatsmacht, die sich politisch in dieser Frage gern bedeckt hält. Die "Mocro-Mafia", wie die marokkanisch-stämmigen Gangs genannt werden, geht weiter ihren Geschäften nach.
Die Politik in den Niederlanden habe zu lange über das wachsende Drogengeschäft hinweggeschaut, darin sind sich die Beobachter der Szene im Land einig. Seit dem Tod von Peter de Vries vor einem Jahr hat sich wenig verändert, außer dass die Regierung in Den Haag inzwischen eine halbe Milliarde Euro für die Strafverfolgung bereitgestellt hat. Der Handel mit Kokain, Heroin und synthetischen Drogen in den Niederlanden soll rund 20 Milliarden Euro im Jahr wert sein. Die Aufholjagd für die Justiz wird schwer und langwierig.
Korrektur am 7. Juni 2022: In einer früheren Version des Artikels waren die Identitäten der beiden Tatverdächtigen vertauscht. Außerdem war das Alter der Angeklagten zum Tatzeitpunkt und nicht das derzeitige angegeben. Dies wurde korrigiert. Die Redaktion bittet, den Fehler zu entschuldigen.