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Faktencheck: Wer ist "Schuld" an der Flut in Brasilien?

21. Juni 2024

Klimawandel, Künstliche Intelligenz und kein Katastrophenschutz? Über Südbrasilien ziehen erneut Unwetter auf - begleitet auch von einer Flut von Desinformation. Die DW hat drei Behauptungen geprüft.

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Überschwemmungen in Brasilien | Luftaufnahme der überschwemmten Stadt Porto Alegre in Rio Grande do Sul. Zwei Straßen versinken im braunen Wasser
Apokalypse in Porto Alegre: Am 5. Mai stand die Landeshauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul nach außerordentlich heftigen Regenfällen unter Wasser Bild: Renan Mattos/REUTERS

Die heftigen Niederschläge in Südbrasilien und damit auch die Angst vor Überschwemmungen sind zurück. Seit dem 16. Juni wird der Bundesstaat Rio Grande do Sul erneut von starken Regenfällen geplagt.

Zurück ist auch die Flut von Desinformation. Falsche Behauptungen zu Dämmen, die angeblich gebrochen sind, zu Niederschlagsmengen oder vermeintlich zurückgehaltenen Spenden, sowie Schuldzuweisungen kursieren in den sozialen Medien. DW-Faktencheck hat drei Behauptungen geprüft.

Prävention durch Drainage?

Behauptung: Wenn Flüsse ausgebaggert gewesen wären, hätten die Überschwemmungen verhindert werden können.

"Solange die Flüsse nicht entschlammt und ausgebaggert werden, wird es weiter Überschwemmungen geben. Das ist kriminelle Fahrlässigkeit und Unterlassung, wach auf, Eduardo Leite!", erklärt die Stadträtin Fernanda Barth aus Porto Alegre.

Die konservative Aktivistin und Lokalpolitikerin macht den Gouverneur von Rio Grande do Sul, Eduardo Leite, in mehreren Posts auf X (hier und hier) am 17. und 19. Juni für die Katastrophe verantwortlich.  

Auf einem Panzer sitzen Menschen mit gelben und orangen Westen und Helmen. Die Feuerwehrmänner fahren durch die überfluteten Straßen von Porto Alegre und befreien Menschen aus ihren Häusern
Rettungsmanöver: Brasilianische Feuerwehrmänner fahren mit einem Panzer durch die überfluteten Straßen von Porto AlegreBild: Diego Vara/REUTERS

DW-Faktencheck: Unbelegt.

Nach der Flut in Rio Grande do Sul wird das Ausbaggern von Flüssen von vielen Politikern in Brasilien als wichtige Präventionsmaßnahme gegen Hochwasser und Überschwemmungen angesehen. 

Doch die auf den ersten Blick logisch erscheinende Erklärung ist nicht belegbar. Wissenschaftler vom Institut für Wasserforschung der Bundesuniversität Rio Grande do Sul (UFRGS) warnen in einer technischen Notedavor, das Ausbaggern von Flüssen als Patentlösung gegen Überschwemmungen zu betrachten.

In dem Dokument weist das Forschungsteam darauf hin, "dass Flüsse von Natur aus ihr Bett in regelmäßigen Abständen verändern und diese Dynamik in einigen Fällen dazu führt, dass die ausgebaggerten Abschnitte in kurzer Zeit verschlammen, was neue Untersuchungen und schließlich neue Baggerarbeiten erforderlich macht".

Porträtaufnahme des brasilianischen Wasserwirtschaftlers Professor Carlos Tucci aus Porto Alegre
Der brasilianische Wasserwirtschaftler Carlos Tucci glaubt nicht, dass die Flut zu politischen Änderungen in Brasilien führen wirdBild: Rhama Analysis

Carlos Tucci, emeritierter Professor an der UFRGS und Direktor des Umwelt-Thinktanks Rhama Analysis in Porto Alegre, weist im Gespräch mit der DW auf die hohen Kosten hin: "Allein die Drainage im Einzugsgebiet von Porto Alegre würde rund 690 Millionen Euro kosten."

Der Wasserwirtschaftler macht sich mehr Sorgen über die zunehmende Bodenversiegelung: "Durch die Bebauung von Flächen in der Stadt kann das Wasser weniger in den Boden einsickern. Dadurch fließt mehr Regenwasser in die Flüsse und die Pegel steigen." 

Zudem mangele es an Überschwemmungsgebieten. "Am besten wäre es, beide Ufer eines Flusses frei zu lassen", erklärt Tucci. "Aber wir haben diese Flächen besetzt. Wer in so einem Risikogebiet lebt, bekommt dies schmerzhaft zu spüren."

Porto Alegre, Überflutungen 1941: Eine Frau sitzt auf einem Stuhl in einer überfluteten Straße. Vor ihr türmen sich Möbel und Haushaltsgegenstände
Jahrhundertflut: Bisher galten die Überschwemmungen von 1941 als die schlimmsten in der Geschichte SüdbrasiliensBild: Fotos Antigas RS/Flickr | Public Domain

"1941 hat es mehr geregnet als 2024"

Behauptung: "In den ersten 15 Tagen im Mai 1941 fielen in Porto Alegre 619,4 Millimeter Regen. In den ersten 27 Tagen im Mai 2024 regnete es 513,6 Millimeter. Es regnete also weniger. Lasst uns Schluss machen mit der Mär von der Klimakatastrophe. 1941 hat es viel mehr geregnet."

Diese Behauptung stellte jüngst der brasilianische Journalist Alexandre Garcia auf  X und in einem Youtube-Video (ab Minute 2:34)auf, allerdings ohne genaue Angabe von Quellen.

Dem in ganz Brasilien bekannten TV-Journalist folgen auf X 4,4 Millionen User. Auf seinem Youtube-Kanal verfügt er über 2,76 Millionen Abonnenten.  

DW-Faktencheck: Falsch.

Die Angaben von Garcia decken sich nicht mit den Messungen des brasilianischen Wetterdienstes MetSul. Laut Wetterdienst fielen im Mai 2024 insgesamt 539 Millimeter Regen in der Landeshauptstadt Porto Alegre. 

Im Mai 1941 wurden 405 Millimeter Niederschlagsmenge gemessen, also deutlich weniger als von Garcia angegeben. Die - nach den 539 Millimetern im Mai 2024 - stärksten Regenfälle ereigneten sich bisher im September 2023 mit 447 Millimetern, gefolgt vom Mai 1941 mit 405 Millimetern.

Auch die Daten vom Umwelt-Institut Rhama Analysis weisen nach, dass die aktuelle Flut verheerender war als die Unwetter von 1941. Sie beziehen sich dabei auf eine größere Datenbasis, nämlich den gesamten Raum des Flusseinzugsgebietes von Porto Alegre mit einer Fläche von 86.000 Quadratkilometern. 

"1941 waren die Niederschlagsmengen geringer und gleichmäßiger", erklärt Wasserwirtschaftler Carlos Tucci im DW-Gespräch. "2024 hingegen gab es heftige Regenfälle in kurzen Zeiträumen. Dies ist ein Merkmal des globalen Klimawandels."

Die Flut von 1941 wird von Klimaskeptikern wie TV-Journalist Garcia immer wieder als Beleg dafür angeführt, dass es keine globale Erderwärmung gebe. Tucci kennt die Argumente.

"Viele sagen: 1941 gab es keinen Klimawandel, und trotzdem kam es zur Jahrhundertflut. Überschwemmungen seien also normal", so Tucci. Seine Erklärung: "Es stimmt. Überschwemmungen sind natürliche Prozesse, die immer wiederkehren. Doch die globale Erderwärmung trägt dazu bei, dass sie immer heftiger werden."

Künstliche Intelligenz in der Katastrophe 

Behauptung: Ein in den sozialen Netzwerken zirkulierendes Bild voller Leichen hat viele Menschen schockiert - angeblich eine Aufnahme aus der südbrasilianischen Stadt Canoas. Auf Whatsapp betitelt ist es mit: "Lügen sowohl Bundes- und Landesregierung? Ich habe dieses Foto von einer Freundin bekommen, die dort wohnt. Sie sagt, sie hat noch nie so viele Tote in ihrem Leben gesehen, und das war noch gar nichts. Heute, am 20. Mai um 16.16 Uhr in der Stadt Canoas".

Das Bild, aufgegriffen von der brasilianischen Factchecking-Agentur Agencia Lupa, verbreitete sich in mehreren sozialen Netzwerken, unter anderem bei Tiktok und Threads.  

Gab es in Canoas tatsächlich diese Leichenberge durch die Überschwemmungen?

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DW-Faktencheck: Fake.

Das Bild zeigt scheinbar unendlich viele aufgedunsene Körper, die im Wasser an der Oberfläche dümpeln. Doch bei dem Bild handelt es sich nicht um ein echtes Foto, sondern um eine mit Künstlicher Intelligenz generierte Abbildung.

Bei einer Bilderrückwärtssuche bei Google Lens ergaben mehrere Hinweise darauf, dass die Aufnahme nicht echt ist, sondern per KI erstellt wurde. Und auch wenn KI-Detektoren fehleranfällig sind und daher nie als einziger Beweis angeführt werden sollten, haben digitale Verifizierungstools wie AI or not die Aufnahme ebenfalls als "Not safe for work" (NSFW) eingestuft. 

Doch auch im Bild selbst finden sich Unstimmigkeiten und Fehler, die typisch für KI-Bildersind: Die Konturen der Körper sind teils unnatürlich verschwommen, Gliedmaßen fehlen oder sind unproportional, an einigen Stellen ohne einen dazugehörigen Körper. Es sind auch etwa Regenschirme zu sehen, die komischerweise unbeschädigt nach oben auf den Körpern stehen. Eines der Hochhäuser im Hintergrund ragt zudem schief in den Himmel.

In der brasilianischen Presse gab es zudem seit dem Beginn der Überschwemmungen keine Berichte über außergewöhnliche viele Todesfälle in der Stadt Canoas.

Unter Mitarbeit von Valentina Gindri und Jéssica Moura.