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PolitikChina

Faktencheck: Ist das Tiananmen-Massaker eine Erfindung?

Monir Ghaedi | Mu Cui
10. Juni 2024

Laut einem viralen X-Post gab es 1989 kein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Vielmehr hätten westliche Regierungen und Medien den Mythos erfunden, um China zu verunglimpfen. Stimmt das?

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Mehrere Dutzend Panzer stehen formiert auf einem großen Platz, dazwischen eher vereinzelte Menschen, an einem Fahnenmast weht die chinesische Flagge
Der "Platz des Himmlischen Friedens" in Peling am 5. Juni 1989Bild: Jeff Widener/AP/dpa/picture alliance

1989 stellten Proteste in mehreren chinesischen Städten die Kommunistische Partei Chinas vor eine der größten Herausforderungen ihrer Herrschaft. Ab April versammelte sich eine große Gruppe Studierender auf dem Tiananmen-Platz in Peking, dem Platz des Himmlischen Friedens. Sie forderten unter anderem Meinungsfreiheit und ein Ende der Korruption. In den folgenden Wochen schlossen sich ihnen tausende Bürger an.

In den Nächten des 3. und 4. Juni ließ die chinesische Regierung die Demonstrationen im Zentrum der chinesischen Hauptstadt durch Soldaten gewaltsam niederschlagen. Es gab Tote und Verletzte auf beiden Seiten.

Die Regierung bezeichnete die Unruhen als "konterrevolutionären Aufstand" und behauptete, sie seien von ausländischen Gegnern angezettelt worden. Diese wollten "bestimmte politische Fehler und vorübergehende wirtschaftliche Schwierigkeiten" Chinas ausnutzen, um das Land zu unterwerfen. 

Heute, 35 Jahre nach dem Ereignis, kursieren diese Anschuldigungen weiterhin im Internet. Ab dem 3. Juni ging eine inzwischen gelöschte Post-Serie auf X, ehemals Twitter, viral. Demnach habe es gar kein Massaker durch die chinesische Armee gegeben. Die Berichte darüber seien Teil einer westlichen Falschinformations-Kampagne gegen China.

Polizisten führen einen Mann im T-Shirt mit Rücksack in einen vergitterten Van
Am 35. Jahrestags des Tiananmen-Massakers, am 4. Juni 2024, wurden in Hongkong Menschen beim Gedenken an die Opfer verhaftetBild: Tyrone Siu/REUTERS

Der Autor: Journalist oder Propagandist?

Der Autor des Tweets, der Neuseeländer Andy Boreham, arbeitet für das staatliche chinesische Medienunternehmen Shanghai Daily. Chinesische Staatsmedien wie "The Global Times" bezeichnen ihn als Journalist, der Falschinformationen über China aufdecke. Quellen wie die in Australien ansässige Denkfabrik ASPI bezeichnen ihn dagegen als "ausländischen Propagandisten" der Regierung in Peking.

Obwohl Boreham seine Beiträge etwa einen Tag nach ihrer Veröffentlichung löschte, erreichten sie rund 3,7 Millionen Nutzer und wurden mehr als 5000 Mal geteilt. Die Beiträge lösten im Internet Debatten über das Ausmaß der Gewalt seitens der Streitkräfte aus und darüber, ob die Berichte über die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens von den USA verfälscht wurden. Die DW hat eine PDF-Version von Borehams Beiträgen erhalten und einige der in den Tweets aufgestellten Behauptungen untersucht.

Gab es ein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens?

Behauptung: Das Tiananmen-Massaker ist eine Erfindung westlicher Beamter und Medien: "Es wird Sie wahrscheinlich nicht schockieren, aber die Idee des 'Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens' ist ein Mythos, der unter Führung der USA in die Welt gesetzt wurde", heißt es in einem von Borehams Posts.

Wer weiterliest, erfährt, dass auch Boreham nicht bestreitet, dass es beim Aufstand von 1989 Opfer gab - ein "Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens" habe jedoch nicht stattgefunden.

Der Tweet deutet an, dass der Mann, der sich auf dem Foto einem Panzer in den Weg stellt getötet wurde.
Das Foto vom "Tankman" (deutsch: Panzermann) ist eine Ikonische Fotografie der blutig niedergeschlagenen Studentenproteste

DW Faktencheck: Irreführend.

Tatsächlich bezweifeln mehrere ausländische Reporter, Diplomaten und weitere Augenzeugen, dass es tödliche Zusammenstöße auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst gab. Allerdings bestätigen sie, dass in den Gebieten rund um den Platz im Zentrum der chinesischen Hauptstadt zahlreiche Menschen getötet wurden.

Es sei also eher die Frage, wie eng man den "Platz des Himmlischen Friedens" definiert, erklärt Joseph Fewsmith, Professor für internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an der Universität Boston, der DW: "Die Demonstranten verließen den Platz in den frühen Morgenstunden, aber natürlich wurden viele in der Nähe des Tiananmen-Platzes getötet."

Die Zahl der Todesopfer schwankt je nach Quelle erheblich. Ein staatlicher Bericht, der etwa eineinhalb Monate nach den Unruhen im Amtsblatt der Zentralregierung veröffentlicht wurde, spricht von mindestens 200 "nicht-soldatischen Opfern", ein Reporter der New York Times schätzte die Opferzahl kurz nach den Zusammenstößen auf 400 bis 800 Tote. Einige Quellen, darunter eine Diplomatische Korrespondenz, die 2017 veröffentlicht wurde, sprechen gar von 10.000 Toten im Zusammenhang mit dem Tiananmen-Aufstand. Reporter, die sich zu dieser Zeit in China aufhielten, bezweifeln diese Zahl allerdings.

Der Begriff "Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens" wird also eher verallgemeinernd verwendet und bezieht sich auf das brutale Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte gegen Tausende Demonstranten im Zuge einer Protestwelle, die am prominentesten auf dem Tiananmen-Platz stattfand. ''Es gibt keine verlässlichen Schätzungen darüber, wie viele Menschen bei diesen Ereignissen getötet wurden, nicht nur in Peking, sondern auch in anderen Städten, nicht nur Demonstranten, sondern auch Schaulustige'', sagt Klaus Mühlhahn, Sinologe an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Aber dass die Armee zahlreiche unbewaffnete Menschen tötete, stehe außer Frage.

Bestätigt Wikileaks die Darstellung der chinesischen Regierung?

Behauptung: Laut Boreham belegen auf Wikileaks veröffentlichte Geheimdokumente, dass es auf dem Platz des Himmlischen Friedens kein Blutvergießen gab. Um das zu belegen, postete er Screenshots eines Artikels der britischen Zeitung "The Telegraph" aus dem Jahr 2011. Darin geht es um einen vertraulichen Bericht der US-Botschaft in Peking an das US-Außenministerium, der von Wikileaks veröffentlicht wurde. Unter dem Titel "Wikileaks: Kein Blutvergießen auf dem Platz des Himmlischen Friedens" zitiert der Artikel den Augenzeugenbericht eines chilenischen Diplomaten. Boreham hebt Passagen des Artikels hervor, nach denen die Armee mit den protestierenden Studenten verhandelt und ihnen erlaubt habe, den Platz friedlich zu verlassen.

Der X-Post beklagt zeigt den Telegraph-Artikel
Hier postet Boreham den Telegraph-Artikel "Wikileaks: kein Blutvergießen auf dem Tiananmen-Platz, behaupten diplomatische Dokumente"

DW Faktencheck: Irreführend.

Wie bei der ersten Behauptung liegt der Schwerpunkt dieses Tweets auf dem Tiananmen-Platz im engeren Sinne. Die diplomatische Korrespondenz ist auf Wikileaks verfügbar und enthält in der Tat die angeführten Aussagen eines chilenischen Diplomaten, der Zeuge der fraglichen Ereignisse gewesen sei. Allerdings unterschlagen sowohl der "Telegraph"-Artikel als auch Borehams Tweets unter anderem diese Passage: "Obwohl er (der chilenische Diplomat, d. R.) nicht Zeuge von Schießereien größeren Ausmaßes auf dem Platz selbst war, sah er viele Opfer, die auf den Platz gebracht wurden, und zweifelte nicht daran, dass Hunderte von Menschen in Peking am 3. und 4. Juni von der Armee getötet wurden."

Haben die Soldaten sich nur gewehrt?

Behauptung: Die meisten Todesopfer waren Soldaten, behauptet Boreham: "Von den 300 bis 400 Menschen, die in dieser Nacht getötet wurden, waren mehr als die Hälfte Soldaten", heißt es in einem seiner Tweets, und im nächsten: "Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Soldaten massakriert wurden, und sich gewehrt haben."

Tweet mit der o.g. Behauptung und einem Foto von Menschen auf einem brennenden Wrack eines Kettenfahrzeug
Mehr als die Hälfte der Todesopfer seien Soldaten gewesen, behauptet Boreham. Die Quellen, die er selbst anführt, sagen etwas anderes.

DW Faktencheck: Falsch.

Offiziellen chinesischen Angaben zufolge wurden nur einige Dutzend Soldaten getötet, während die Zahl der zivilen Todesopfer auf 200 geschätzt wird. Die New York Times schätzt, dass etwa ein Dutzend Soldaten und Polizisten sowie 400 bis 800 Zivilisten getötet wurden. Es scheint keine Beweise dafür zu geben, dass bei den Unruhen mehr Soldaten als Zivilisten getötet wurden.

Fazit: Boreham's Behauptungen über das sogenannte Tiananmen-Massaker sind offiziellen und weiteren Quellen zufolge teils irreführend, teils falsch. Sogar die Quellen, die er selbst anführt, widersprechen seinen Behauptungen.

Anders als Boreham andeutet, ist es alles andere als neu, dass die tödlichsten Zusammenstöße außerhalb des Platzes des Himmlischen Friedens stattgefunden haben könnten und dass die Ereignisse auf dem Platz selbst nicht als Massaker zu bezeichnen sind. Verschiedene prominente westliche Medien, darunter die bereits zitierte "New York Times" und der britische Sender BBC, haben dies bereits vor ihm berichtet, und so steht es auch in Wikipedia-Artikeln in mehreren Sprachen.

Dass die chinesische Regierung die Demonstrationen gewaltsam niederschlagen ließ und dabei vor allem Zivilisten getötet wurden, ist hingegen unstrittig, sagt China-Forscher Mühlhahn: "Bewaffnete Kräfte sind gegen unbewaffnete Studenten vorgegangen, wobei sich diese auch verteidigt haben."