Faktencheck: Hat Syrien Annalena Baerbock verpixelt?
7. Januar 2025Im Auftrag der EU reisten die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Noel Barrot am 3. Januar nach Damaskus. Die beiden Chefdiplomaten führten Gespräche mit den neuen Machthabern in Syrien sowie Vertreterinnen und Vertretern der syrischen Zivilgesellschaft. Doch der Besuch beim neuen syrischen Herrscher Ahmed al-Scharaa, dem Anführer der islamistischen Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), sorgt für mehrere Aufreger in den sozialen Netzwerken und Medien.
Heftige Kritik hatte sich bereits darüber erhoben, dass Al-Scharaa Baerbock als Frau - im Unterschied zu ihrem männlichen Kollegen - ohne Handschlag empfangen hatte, mit der Ersatzgeste: die Hand aufs Herz legen. Nach verschiedenen Quellen des islamischen Rechts ist es muslimischen Männern verboten, Frauen die Hand zu schütteln - es sei denn, sie stehen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zueinander. Nun sorgt der Umgang mit den offiziellen Aufnahmen des Treffens für noch mehr Aufregung.
Behauptung: "Syriens neue Führung macht die deutsche Außenministerin Baerbock in Social-Media-Posts unkenntlich", schreibt ein X-Nutzer zu den Bildern, auf denen die deutsche Politikerin bei ihrem Besuch in Damaskus verpixelt ist. Viele weitere X-Nutzer teilen den Screenshot eines ntv.de-Artikels mit der Überschrift "Kanal der syrischen Führung macht Baerbock auf Fotos unkenntlich" (siehe Titelbild). Noch viraler ging ein Screenshot der Bild-Zeitung mit der Überschrift "Syrische Islamisten zensieren die Fotos von Baerbock", aus dem ein X-Nutzer schnell schlussfolgerte: "Syrien zensiert das Foto von Baerbock".
DW-Faktencheck: Falsch
Tatsächlich kursieren im Netz Fotos von dem fraglichen Syrien-Besuch, auf denen die deutsche Außenministerin sowie zwei weitere anwesende Frauen unkenntlich gemacht wurden. Der französische Außenminister ist hingegen erkennbar. Die Aussage, dass Syrien beziehungsweise die Führung in Damaskus die Bilder zensiert hätte, ist dennoch falsch.
Verpixelt wurde Annalena Baerbock auf den Bildern auf dem Telegram-Kanal Almharar. Laut Selbstbeschreibung handelt es sich bei dem Kanals um den "offiziellen Kanal des Nachrichtennetzwerks Freies Syrien". Bis kurz vor dem Sturz des Assad-Regimes durch die HTS im Dezember, habe es noch "Nachrichtennetzwerk Befreiter Norden" geheißen, sagte der deutsch-schweizerische Islamwissenschaftler Reinhard Schulze der DW.
Eine archivierte Version des Telegram-Kanals Almharar vom 30. September 2022 zeigt, dass der Kanal damals um die 50.000 Abonnenten hatte mittlerweile sind es fast 356.000. Nach eigenen Angaben war er der Berichterstattung aus der Umgebung von Hama, Idlib und Aleppo gewidmet, einschließlich der Kämpfe und ihrer Auswirkungen auf die Einflussbereiche der verschiedenen Bürgerkriegsparteien.
Kein offizieller Kanal der HTS-Machthaber in Syrien
"Das Netzwerk verknüpft sich mit neoorthodoxen Predigern in Idlib wie Abu Mahmud al-Halabi und vor allem Abu Abdarrahman al-Mutawakkil, der für seine salafistischen Predigten bekannt ist", so Schulze. "Er steht in jener Tradition, von der sich die HTS ab 2013 sukzessive gelöst hat." Laut dem Islamwissenschaftler hatte das Netzwerk seinen Sitz in Istanbul, heute agiere es wohl auch von Syrien aus. Zum De-facto-Herrscher Syriens, Ahmed al-Scharaa, pflege das Netzwerk aus Sicht von Schulze eine "abwartende Haltung". Der politische Einfluss der hinter dem Netzwerk stehenden Fraktionen sei schwer einzuschätzen, da dieser oft enorm personalisiert sei. "Klar ist, dass das Netzwerk nicht mit der offiziellen Politik der HTS verbandelt ist", hält Reinhard Schulze fest. Auch die syrischen Faktenchecker von Verify-Sy betonen, dass Almharar ein lokaler Kanal und nicht offiziell mit HTS verbunden sei.
Almharar mag also von sich behaupten, "offiziell" über Syrien zu berichten, von den offiziellen syrischen Behörden wurden dieselben Bilder unzensiert verbreitet. So sieht man die Fotos von Annalena Baerbock ohne erkennbare Veränderungen auf dem offiziellen X-Kanal des syrischen Außenministeriums. Genauso handhaben es führende syrische Medien sowie die Nachrichtenagentur Syrian Arab News Agency SANA.
Die Überschrift des auf dem vielfach geteilten Screenshot abgebildeten Artikels der Nachrichtenseite ntv.de wurde mittlerweile geändert. Statt "Kanal der syrischen Führung macht Baerbock auf Fotos unkenntlich" lautet der Titel nun "HTS-naher Kanal macht Baerbock auf Fotos unkenntlich". Dies bestätigte eine Sprecherin von RTL Deutschland auf Nachfrage der DW: "Tatsächlich hatte der ntv.de-Artikel ursprünglich eine andere Überschrift, die im Laufe des gestrigen Tages nachträglich angepasst wurde. Der besagte Screenshot ist somit nicht manipuliert, sondern zeigt die ursprüngliche Überschrift". Die Änderung der Überschrift deutet darauf hin, dass die ntv-Journalisten den Almharar-Kanal nicht als Sprachrohr der offiziellen syrischen Führung einordnen.
Auch die DW hatte am 6. Januar in einem Artikel über die Lage in Syrien zunächst fälschlicherweise erwähnt, dass die HTS-Miliz in "ihrem" Telegram-Kanal Fotos mit einer verpixelten Annalena Baerbock veröffentlicht habe. Noch am gleichen Tag wurde der Fehler korrigiert und mit einem redaktionellen Hinweis gekennzeichnet.
Zukunft der Frauenrechte unklar
Nur einen Tag nach dem Eklat mit den zensierten Bildern der deutschen Außenministerin und ihrer Begleiterinnen machte Almharar weitere Frauen auf den geposteten Fotos unkenntlich. So wurden in einem Post vom 4. Januar 2025 die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Mirjana Spoljaric Egger und die Teilnehmerinnen ihrer Delegation auf dem Bild von ihrem Treffen mit dem Premierminister Mohammed al-Bashir verpixelt.
Bezeichnend ist dabei, dass sich Annalena Baerbock bei ihrem Besuch ausgerechnet das Thema Frauenrechte auf die Fahne geschrieben hatte. Frauenrechte seien ein "Gradmesser für die Freiheit in einer Gesellschaft", sagte Baerbock den Zeitungen der Funke Mediengruppe nach ihrer Rückkehr aus Syrien: "Je gravierender die Rechte von Frauen unterdrückt werden, desto autoritärer und extremistischer wird eine Gesellschaft als Ganzes." Die Bundesaußenministerin will Hilfen für Syrien von der Achtung von Frauenrechten abhängig machen: "Es wird keine EU-Gelder für islamistische Strukturen geben", das habe sie bei ihrem Besuch in Syrien den Führern der islamistischen HTS-Miliz "mehr als deutlich gemacht".
Bisher sehen die von der DW befragten Menschenrechtlerinnen und Aktivistinnen im Land sowohl eine Chance als auch eine Gefahr für die Lage der Frauen in Syrien. Immerhin hat die von Islamisten dominierte Übergangsregierung zwei Frauen in Ämter gehoben, die bisher Männern vorbehalten waren: Maysaa Sabrine ist geschäftsführende Direktorin der syrischen Zentralbank und Muhsina al-Mahithaui die erste Gouverneurin in Syrien.
Gleichwohl betont Muzna Dureid von der feministischen Organisation Syrian Women's Political Movement: "In Syrien müssen wir an der Verfassung arbeiten, um sicherzustellen, dass sie die Rechte der Frauen in Bezug auf Religion, Politik sowie Landrechte und Eigentum schützt." Außerdem seien erhebliche Gesetzesreformen erforderlich, um die Frauenrechte in Syrien zu verbessern.
Sowohl in Syrien als auch im Ausland beobachtet man nun genau, ob die neuen Machthaber die Frauenrechte respektieren werden oder ähnlich wie die Taliban in Afghanistan nach und nach unterdrücken.
Mitarbeit: Emad Hassan, Torsten Neuendorff