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GlobalisierungGlobal

Faktencheck: Führen 15-Minuten-Städte zu neuen Lockdowns?

Nadine Mena Michollek | Rachel Baig
15. April 2023

Ein Stadtplanungskonzept soll CO2-Emissionen senken und Fahrtzeiten verkürzen. Doch manche fürchten, es soll unsere Bewegungsfreiheit einschränken und helfen, uns stärker zu überwachen. Ein DW-Faktencheck.

https://p.dw.com/p/4PuU7
Radfahrer auf Fahrradbrücke
Überall hin mit dem Rad: Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen setzt auf FahrradstraßenBild: Jörg Carstensen/picture alliance

Das Konzept einer 15-Minuten-Stadt klingt wahrscheinlich für viele verlockend: Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln sollen binnen einer Viertelstunde alle Orte und Dienstleitungen erreichbar sein, die Grundbedürfnisse von Bürgern erfüllen.

"Wir müssen die Städte so gestalten, dass sie für Fußgänger gemacht sind, dass es mehr medizinische und pädagogische Angebote gibt, dass wir unsere täglichen Aufgaben erledigen können und dass die Städte lebenswert sind", sagt Carlos Moreno, Professor an der Pariser Sorbonne-Universität, im DW-Interview. Moreno gilt als Entwickler des städtebaulichen Konzepts.

Weltweit haben Städte wie Paris, Barcelona und Shanghai das Konzept der 15-Minuten-Stadt oder ein ähnliches bisher diskutiert und in einigen Fällen auch umgesetzt.

In sozialen Netzwerken verbreiteten sich zunehmend auch viele Falschinformationen dazu. Das DW-Faktencheckteam hat drei Behauptungen überprüft.

Soll die Bevölkerung eingeschlossen leben?

Behauptung: "Die Bevölkerung lebt eingeschlossen in Wohnvierteln, und das Ziel ist, dass sie nicht pendelt, um die Emissionen zu reduzieren", so eine Behauptung im spanischen rechten Fernsehsender "El' Toro TV" (die Behauptung ist etwa bei Minute 50 im Video zu sehen).

DW-Faktencheck: Falsch.

Beim 15-Minuten-Konzept geht es weniger darum, Pläne für jedes einzelne Viertel zu entwerfen, und vielmehr darum, die Grundbedürfnisse innerhalb von 15 Minuten erreichbar zu machen, so der Autor und Verfechter der urbanen Mobilität, Chris Bruntlett, im Gespräch mit der DW. Er veröffentlichte das Buch "Building the Cycling City" über die niederländische Fahrradkultur und ihre Herausforderungen.

Die niederländische 15-Minuten-Stadt Utrecht

Die Stadt Utrecht in den Niederlanden setzte das 15-Minuten-Konzept in den vergangenen Jahren bereits um. Wie Ergebnisse einer Untersuchung zwischen 2019 und 2021 ergaben, können fast 100 Prozent der Bewohner neun Grundbedürfnisse innerhalb von 15 Minuten mit dem Fahrrad befriedigen. Zu den Grundbedürfnissen zählen beispielsweise Lebensmittel, Gesundheitsversorgung, Bildung und Sport.

Blick auf Utrecht aus der Vogelperspektive
Die niederländische Stadt Utrecht hat das 15-Minuten-Städtekonzept implementiertBild: H. Blossey/blickwinkel/picture alliance

Das 15-Minuten-Konzept ist laut Carlos Moreno ein humanistisches Konzept, "um gegen die derzeitige Segregation, gegen Zertifizierungen und Gentrifizierung zu kämpfen." Das Konzept fördere zudem Klimaresilienz sowie öffentliche Räume vor allem für Menschen, nicht für Autos.

Brauchen Menschen eine Genehmigung, um ihren Bezirk zu verlassen?

Behauptung: "Die Bewohner werden ab 2024 eine Genehmigung brauchen, um ihren Bezirk zu verlassen", heißt es in diesem viralen TikTok-Video über Oxfordshire im Vereinigten Königreich.Katie Hopkins, eine Kolumnistin und rechtsextreme politische Kommentatorin, bezeichnet die Fahrverbote sogar als "Klima-Lockdowns".

DW-Faktencheck: Falsch.

Screenshot einer Behauptung auf TikTok zu Oxford
Über den britischen Bezirk Oxfordshire sowie die Stadt Oxford gab es Desinformation zum des 15-Minuten-Städtekonzepts

Tatsächlich verwechselten hier die Nutzer anscheinend zwei Konzepte: den neuen Verkehrsfilterplan für die Stadt Oxford, dessen Versuchsphase 2024 beginnt, und Oxfords 15-Minuten-Städeplan als Teil der Stadt-Strategie "Oxford Local Plan 2040". 

Der Verkehrsfilterplan wurde im November 2022 vom Bezirksrat Oxfordshire verabschiedet, um auf sechs Straßen in der Stadt Oxford Verkehrsfilter einzurichten. Der Plan soll das Verkehrsaufkommen reduzieren, indem Privatfahrzeuge diese Gebiete in den Hauptverkehrszeiten ohne Genehmigung nicht befahren dürfen. Anwohner können eine Genehmigung für das Durchfahren der Zonen für bis zu 100 Tage im Jahr beantragen. Zudem sind Fußgänger, Radfahrer, Busfahrer, Taxifahrer und andere Verkehrsmittel davon ausgenommen.

Alle Teile der Stadt seien aber auch mit dem Auto weiterhin erreichbar, heißt es von den Behörden. Möglicherweise müssten Autofahrer allerdings alternative Routen benutzen.

Die Regelung wird durch Kameras überwacht, physische Kontrollpunkte gibt es aber keine. Und: Diese Strategie hat nichts mit dem 15-Minuten-Plan für die Stadt Oxford zu tun.

Aufgrund der Fehlinformationen über die 15-Minuten-Pläne für Oxford haben die Behörden zahlreiche Nachrichten von besorgten Einwohnern erhalten. Daher haben die lokalen Behörden auf ihrer Webseite die häufigsten Gerüchte und Fragen zu diesem Thema beantwortet.

Gehören in China Sicherheitszäune zum 15-Minuten-Städtekonzept?

Behauptung: "15-Minuten-Städte in China - jede Nachbarschaftszone ist durch einen Zaun abgetrennt, wobei ein Eingangstor bewacht wird. Wenn Sie Ihre Zone betreten oder verlassen wollen, brauchen Sie eine Erlaubnis und einen Gesichtsscan", behauptet ein TikTok-Nutzer (archivierte Version des ursprünglichen Beitrags, der bereits gelöscht wurde). 

DW-Faktencheck: Teilweise unbelegt, teilweise falsch.

Das virale und mehrfach geteilte TikTok-Video suggeriert, dass das Konzept der 15-Minuten-Stadt in chinesischen Städten bereits strikt umgesetzt wurde. Angeblich seien Stadtteile durch Zäune abgetrennt und die Bürger dürften bestimmte Wohnviertel aufgrund des 15-Minuten-Konzepts nur per Gesichtserkennung verlassen.

Aber stimmt das wirklich? Schauen wir uns das TikTok-Video zunächst einmal genauer an.

Screenshot einer Behauptung auf Twitter zu CHina
Angeblich soll dieser Zaun mit Maschendraht Teil des 15-Minuten-Konzepts in China sein

Das Video ist eine Zusammenstellung von verschiedenen Szenen. Die erste Szene zeigt einen Stacheldrahtzaun, der eine Straße teilt. Andere Nutzer teilten das Video ebenfalls und erklärten, dass es sich um COVID-Schutzmaßnahmen in Shenzhen handelt. Während der Hochzeiten der Coronavirus-Pandemie berichteten diverse Medien von sehr strengen Schutzmaßnahmen in China, die Teil der Null-COVID-Strategie des Landes waren.

In dem viralen Video ist auf einem Gebäude ein Schild mit der Aufschrift "Sha He Apartment" zu sehen. Das DW-Faktencheckteam konnte zwar das spezifische Gebäude nicht identifizieren, fand aber heraus, dass es in Shenzhen einen Bezirk namens "Sha He" und auch ein "Sha He Apartment"-Gebäude gibt. Diese Zeichen deuten also daraufhin, dass das Video wahrscheinlich in Shenzhen gedreht wurde.

Zudem spricht die Frau in dem Video mit einem südchinesischen Akzent, was ebenfalls darauf hindeuten könnte, dass sich das Video auf Shenzhen bezieht, da sich die Stadt im Süden Chinas befindet.

Faktencheck: Wie erkenne ich Fake News?

Das DW-Faktencheckteam fand zudem heraus, dass die zweite Sequenz im geteilten Video keine 15-Minuten-Stadt, sondern die Sicherheitssysteme am Eingang des Yuzhong-Campus der Northwest University for Nationalities in Lanzhou im Nordwesten Chinas zeigt. Dies fanden wir heraus, da wir mithilfe von Google Maps die Karaokebar ausfindig machten, die im Video zu sehen ist. Außerdem beschreibt ein Mensch in einer anderen Version des Videos, wahrscheinlich dem Original, wie das Sicherheitssystem auf dem Campus seiner Hochschule über Gesichtserkennung funktioniert.

Shitao Li von der chinesischen Abteilung der DW sagt, dass Gesichtserkennungssysteme, sogenannte Gated Communities, auf Deutsch etwa geschlossene Gemeinden, und Massenüberwachung in China üblich sind. Diese haben aber nicht zwangsläufig etwas mit dem 15-Minuten-Konzept zu tun. "Es gibt viele Dinge, die man am chinesischen Staat kritisieren kann, aber die 15-Minuten-Stadt scheint noch nicht dazuzugehören."

15-Minuten-"Gemeinschaftslebenskreise"

Tatsächlich planen beispielsweise chinesische Städte wie Shenzhen, das 15-Minuten-Städtekonzept umzusetzen. Die Stadtverwaltung gab online bekannt, dass sie so genannte "15-Minuten-Gemeinschaftslebenskreise" eingerichtet habe. Das DW-Faktencheckteam konnte jedoch keine Hinweise darauf finden, dass Zäune oder Tore Teil der Umsetzung sind. 

Generell widerspricht die Umzäunung von Stadtvierteln eher dem 15-Minuten-Konzept, da die Menschen sie umrunden müssen. Das bestätigt auch Liu Daizong, Direktor des China Sustainable Cities Program am World Resources Institute. Eingezäunte Grundstücke zerstörten das Stadtbild eher und erschwerten Planungsinitiativen, schreibt Liu Daizong.

Auch Eva Heinen, Professorin an der Technischen Universität Dortmund, sowie Carlos Moreno sagten der DW, dass sie keine 15-Minuten-Städtekonzepte kennen würden, die die Umzäunung von Stadtvierteln oder den Einsatz von Gesichtsscans vorsehen würden.

Und auch Städte wie Utrecht, Paris oder Barcelona, die das Konzept demnächst umsetzen werden oder bereits umgesetzt haben, verwenden diese Beschränkungen nicht.

Mitarbeit: Javier Perez De La Cruz, Ines Eisele, Shitao Li, Thomas Sparrow, Kathrin Wesolowski und Silja Thoms

Aus dem Englischen adaptiert von Kathrin Wesolowski

DW Mitarbeiterportrait | Rachel Baig
Rachel Baig Redakteurin und Moderatorin im DW-Faktencheck-Team, Medientrainerinrachel_baig