Neue Rekorde bei Geflüchteten - was Deutschland tun will
11. Oktober 2022Viele Kommunen in Deutschland sind mit der Unterbringung und Betreuung geflüchteter Menschen vollkommen überfordert und schlagen schon seit Längerem beim Innenministerium Alarm: Sie brauchen schlicht Hilfe. Zwei Stunden dauerte dann auch das Gespräch über die Flüchtlingslage, zu dem Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach Berlin eingeladen hatte. Beziehungsweise - so ganz freiwillig war es dann nicht, denn Städte und Gemeinden, aber auch die Bundesländer, hatten ein solches Treffen schon vor Wochen verlangt. Sie fühlen sich vom Bund bei der Aufnahme und Versorgung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, aber auch Asylbewerbern allein gelassen.
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar sind rund eine Million Kriegsflüchtlinge in Deutschland aufgenommen worden. In den letzten Monaten nahm aber auch die Zahl der Asylbewerber wieder zu, die über das Mittelmeer und die sogenannte Balkan-Route nach Norden ziehen. Von Januar bis September 2022 wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 135.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. Das sind 35 Prozent mehr als 2021.
Turnhallen und Zeltstädte
Immer mehr Kommunen melden voll belegte Unterkünfte. Turnhallen müssen als Notunterkünfte zweckentfremdet werden. Die Situation sei vergleichbar mit den Jahren der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und 2016, sagte der Vizepräsident des Deutschen Städtetags, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung in Berlin. In Leipzig seien bereits zwei Zeltstädte errichtet worden, in Dresden müsse eine Messehalle für die Unterbringung genutzt werden.
Allerdings ist die Belastung ungleich verteilt. Wer aus der Ukraine nach Deutschland kommt, kann sich bis zu 90 Tage frei bewegen. Zwei Drittel der Kriegsflüchtlinge sind privat untergekommen oder haben sich selbst eine Wohnung gemietet. Die anderen gehen vor allem in die großen Städte. Von den 300 Immobilien, die der Bund zur Verfügung gestellt habe, seien erst 68 Prozent belegt, so Innenministerin Faeser. Platz ist vor allem in ländlichen Gegenden und kleineren Städten.
Erst im November wird über Geld gesprochen
Faeser will nun 56 zusätzliche Bundesimmobilien mit 4000 weiteren Plätzen zur Verfügung stellen. Mehr Geld konnte sie nicht anbieten, das liegt nicht in ihrer Zuständigkeit. "Es war nicht sehr viel anders zu erwarten, als dass die Bundesinnenministerin kein Scheckbuch dabei hatte, weil die Finanzverhandlungen der Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten führt", sagte etwas scherzhaft der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU).
Doch er wurde schnell wieder ernst. "Ich will aber schon noch einmal deutlich sagen, dass dies jetzt für den November avisiert ist und es ist höchste Zeit." Im Frühjahr hatte der Bund zwei Milliarden Euro für die Unterbringung ukrainischer Kriegsflüchtlinge bereitgestellt. Für Asylbewerber ist die Zusage des Bundes zur Kostenübernahme Ende 2021 ausgelaufen, eine Neuregelung steht aus.
Herrmann spricht von einer finanziell "rechtlosen Situation" und machte in Berlin deutlich, was er erwartet: "Angesichts der enormen Inflation, der massiven Preissteigerungen, die wir haben, liegt natürlich auf der Hand, dass die Erstattungen an die Kommunen in einer Neuregelung noch ein Stück weit höher sein müssen logischerweise, als es die alten 2021 waren."
Mehr Grenzkontrollen nach Süden
Während die weitere Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine nicht zur Debatte steht, will die Bundesregierung "unerlaubte Einreisen" von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten unbedingt begrenzen. Nicht nur in Deutschland, sondern insgesamt an den EU-Außengrenzen steige der Druck aktuell an. "Das macht mir Sorgen", so Faeser, die für eine "klare Begrenzung" sorgen will.
Die Grenzkontrollen zu Österreich sollen über den November hinaus für ein weiteres halbes Jahr weiter verlängert werden. An der Grenze zu Tschechien kontrolliert die Bundespolizei deutlich verstärkt im Rahmen ihrer Schleierfahndung. Sie habe außerdem mit ihren Kollegen in Tschechien und in Österreich "sehr ernste Gespräche geführt", so Faeser, die dazu geführt hätten, dass es dort nun verstärkte Grenzkontrollen zur Slowakei gebe.
Serbiens Visa-Praxis "inakzeptabel"
Auf europäischer Ebene müsse auch über die Situation in Serbien und über einen verstärkten Einsatz von Frontex beraten werden, so Faeser. Serbien erlaubt die visafreie Einreise vieler Nationalitäten, darunter Syrer, Iraker und Türken, aber auch Inder und Pakistani. Die Behörden beobachten, dass verstärkt Menschen nach Serbien fliegen und von dort auf dem Landweg über Kroatien, Slowenien und Österreich, aber auch über Ungarn, die Slowakei und Tschechien nach Deutschland weiterreisen.
Die Bundesregierung habe die "klare Erwartung", dass Serbien seine Visa-Regeln an die der EU anpasse, so Faeser. "Die Visapraxis Serbiens ist inakzeptabel. Auch diese trägt zu den Bewegungen auf der Balkanroute bei." Die europäischen Staaten seien "gemeinsam in der Verantwortung, illegale Einreisen zu stoppen".
Dublin-Abkommen wiederbeleben?
Nach dem Willen der Bundesregierung soll auf europäischer Ebene auch darüber verhandelt werden, ob und wie Geflüchtete, die aus anderen EU-Staaten nach Deutschland gekommen sind, in diese Länder zurückgeführt werden können. "Ich habe vor kurzem bei der EU-Kommission eingefordert, dass über die Balkanroute geredet wird", so Faeser.
Die Bundesinnenministerin beruft sich dabei auf die sogenannte Dublin-Verordnung, nach der grundsätzlich derjenige EU-Mitgliedstaat den Asylantrag zu prüfen hat, in den der Asylbewerber zuerst eingereist ist. Ein Abkommen, das seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 auf eine Reform wartet.
Asylbewerber werden schlecht behandelt
In der Praxis haben weder Griechenland, wo die meisten Flüchtlinge aus der Türkei und über das Mittelmeer ankommen, noch andere Staaten auf der Balkan-Route ein Interesse daran, Menschen zurückzunehmen. Von einer "Asylwüste", die sich zwischen Griechenland und Österreich erstrecke, spricht der Migrationsforscher Gerald Knaus: "Die Länder liefern sich einen Wettstreit darum, wer potentielle Asylanten schlechter behandelt. Die Folge ist, dass fast niemand in einem Staat der Region bleiben möchte."