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Fünf Jahre bis zur Selbstauflösung

3. Januar 2012

Das hätten sich die Soldaten der US-Army nach dem Zweiten Weltkrieg wohl nicht träumen lassen, dass ihre Kaugummis Jahrzehnte später deutsche Kommunen vor ernsthafte Probleme stellen - so auch Berlin.

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Kaugummis an den Resten der Berliner Mauer (Foto: DW/Scholz)
Dieser Geruch bleibt einem lange in der Nase klebenBild: DW/Scholz

Hunderte, wenn nicht gar tausende Kaugummis kleben an einem Stück übrig gebliebener Berliner Mauer, das auf dem zentralen Potsdamer Platz an die Teilung der Stadt erinnern soll. Ein kalter süßlicher Geruch nach Minze umweht das zehn Meter lange Stück geschichtsträchtigen Beton. Im Spätsommer und Herbst zog das viele Wespen und andere Insekten an, sie fühlten sich von den Speichel- und Essensresten angezogen, die wohl immer auch in ausgespuckten Kaugummis kleben. Da der Winter, der den Geruch vielleicht hätte erfrieren lassen können, bisher ausgeblieben ist, begrüßt die deutsche Hauptstadt seine Besucher auch im neuen Jahr 2012 mit dieser eigenartigen Sehenswürdigkeit.

Ich war hier!

Junge Berlinerinnen am Potsdamer Platz vor Mauer mit Kaugummis (Foto: DW/Scholz)
Berliner Kaugummi-FansBild: DW/Scholz

Viele Passanten empfinden Ekel, wenn sie daran vorbeigehen - aber nicht alle. Vor allem junge Leute kommen zur Kaugummi-Mauer, um zu gucken und mitzumachen. Sie kauen und kleben, so dass es immer mehr Kaugummis werden. Längst aber sind es nicht nur Touristen, die kommen, kauen und kleben, sondern auch Berliner. Sie fänden das hier super, sagen die vier Mädchen, die sich als Migrantinnen aus Osteuropa in der zweiten Generation vorstellen und dabei akzentfrei Berlinerisch sprechen.

Nein, ein zu lascher Umgang mit einem traurigen Kapitel deutscher Geschichte sei das nicht, wenn sie hier Kaugummis aufklebten. "Wir leben heute in anderen, lustigeren Zeiten", sagt die eine, "und das kann man doch auch zeigen." "Ist doch schön, wenn die Mauer nicht mehr Schrecken verbreitet", pflichtet ihre Freundin bei, "sondern Leute zum Mitmachen animiert".

Streetart oder Müllproblem?

Streetart-Künstler Ben Wilson bemalt Kaugummis (Foto: Neville Young/Flickr)
Streetart-Künstler Ben Wilson bemalt KaugummisBild: cc-by-sa-Neville Young

Nicht nur am Potsdamer Platz wird Kaugummikleben zu einer neuen Form partizipativer Kunst. Vor dem nicht weit entfernten Museum für Kommunikation kleben Besucher ihre Eintrittskarten an einen Laternenpfahl. In Seattle im US-Bundesstaat Washington gibt es eine "Gum Wall" vor dem Market Theatre. Schon in den 90er-Jahren begannen hier wartende Theaterbesucher, Münzen zum Andenken mit Kaugummis anzukleben. Es gibt zudem die berühmte Bubblegum Alley im kalifornischen San Luis Obispo. Und der Künstler Ben Wilson hat schon vor Jahren angefangen, die zentimetergroßen Gummireste auf Bürgersteigen zu bemalen - und so mit Kaugummi Streetart zu machen.

Der Wuppertaler Kommunikationsdesigner Marcus Sonntag hat sich im Rahmen seiner Diplomarbeit wissenschaftlich mit dem Thema Kaugummi beschäftigt. "Deutschland kostet die Beseitigung von Kaugummis 900 Millionen Euro im Jahr", sagt Sonntag. "Die Entfernung nur eines Kaugummis kann zwei Minuten dauern und das kostet im Schnitt ein bis zwei Euro pro Kaugummi." Das sei schon regelrechte Extremschmutzbeseitigung.

Sonntag weiß noch andere Zahlen, die ungeahnte Dimensionen offenbaren. Nämlich, dass in den deutschen Innenstädten 35 bis 40 Kaugummis pro Quadratmeter klebten. "Vor Kneipen oder Bushaltstellen können es sogar 90 sein."

"Eine amerikanische Unsitte"

Kaugummis an den Resten der Berliner Mauer am Potsdamer Platz (Foto: DW/Scholz)
Ein Stück überklebter ErinnerungBild: DW/Scholz

Die Stadt Berlin hoffe, dass das ein temporäres Problem bleibe, sagt Senatssprecher Mathias Gille. Das Problem am Potsdamer Platz sei schon seit Monaten bekannt, aber man habe sich noch zu keiner Entscheidung durchringen können, wie damit umzugehen sei. "Das ist eine nicht sehr angenehme Angelegenheit, wenn hier in Berlin ein Kulturdenkmal zugeklebt wird", sagt Gille. "Das ist eine amerikanische Sitte oder Unsitte, wie immer man das auch bezeichnen möchte."

Die Mauer an dieser Stelle sei wohl zerstört, gibt Gille zu bedenken. Denn den Kaugummi zu entfernen, das ginge nur, wenn man die Oberfläche der Mauer abtrage. Mit sonst üblichen Hochdruckreinigern allein lässt sich das Ärgernis nicht beseitigen.

Eine politische Herausforderung

An der Universität Bristol werde an Kaugummis geforscht, die sich bereits nach Tagen oder Wochen von selbst auflösen, erzählt Kaugummi-Experte Marcus Sonntag. "Normalerweise dauert der Zersetzungsprozess fünf Jahre." Einige Kommunen in Deutschland würden sich inzwischen ernsthaft mit dem Problem des lang haftenden Kauguts auseinandersetzen. Dazu zählten Erfurt, Mainz und Offenbach. Köln habe derweil hohe Bußgelder auf ungemäß entsorgten Kaugummi verhängt. Internationales Vorbild ist Singapur. Dort koste ein Ausspuckdelikt bis zu 500 Dollar, und Kauware dürfe nur noch in Apotheken vertrieben werden.

In Berlin dagegen wird über das Problem zwar gemeckert, aber wohl nichts dagegen unternommen. "Eine Einzellösung macht keinen Sinn, wenn man eine Gesamtlösung braucht, um perspektivisch mit dem Problem umzugehen", sagt Senatssprecher Gille. Und man könne schließlich nicht an jedes Berliner Denkmal jemanden hinstellen, der aufpasse - dafür gebe es schließlich zu viele Denkmäler in der Stadt. Er hoffe, dass sich die vielen Stadtführer des Problems annehmen und bei den Touristen an die guten Sitten appellieren. An anderer Stelle, nämlich am stark frequentierten Alexanderplatz will Berlin jetzt eine Teflonschicht auf die Gehwegplatten auftragen, damit Kaugummis keine Chance mehr haben.

Autor: Kay-Alexander Scholz

Redaktion: Arne Lichtenberg