ESC: Tel Aviv zwischen Party und Politik
14. Mai 2019Irit Shalev sitzt in der Maske von Israels privatem Fernsehsender Reshet 13. Sie ist nervös. Noch der Lidstrich, dann wird sie mit ihrer Gruppe "Eurofalsh" Izhar Cohens "Olé olé" performen - soll heißen die Choreographie nachtanzen und die Lippen dazu bewegen. Izhar Cohen ist eine Legende hierzulande. Er gewann 1978 als erster Israeli den ESC und sorgte dafür, dass das kleine Land im Nahen Osten erstmals den europäischen Song Contest ausrichten durfte.
"Dass der ESC jetzt in Tel Aviv stattfindet, ist für uns wie ein Traum", meint Shalev. "Nicht nur, weil wir totale Fans sind, sondern auch weil wir endlich die Früchte unserer jahrelangen Arbeit ernten." Seit mittlerweile zwanzig Jahren gibt es die Lip Sync Kombo "Eurofalsh", die ausschließlich Titel von ESC Musikern nachtanzt.
Ganz Tel Aviv ist noch vom Unabhängigkeitstag mit Israelfahnen geschmückt, in den letzten Tagen sind immer mehr bunte ESC-Plakate mit dem Schriftzug "Dare to Dream" hinzugekommen. "Wage zu träumen" so das offizielle Motto. "Tel Aviv mit seinen Stränden ist sexy und cool", meint Shalev. "Es ist der perfekte Ort für den Song Contest."
Busse am heiligen Sabbat? Ultraorthodoxe Juden sind empört
Ursprünglich sollte der ESC in Jerusalem stattfinden, so wie damals nach dem ersten israelischen Sieg von Izhar Cohen. Doch dann kündigten Israels ultraorthodoxe Juden Protest an. Denn das Finale findet - wie üblich beim ESC - an einem Samstagabend statt. Tausende Mitarbeiter müssten am Samstag arbeiten, um dies möglich zu machen. Für streng religiöse Juden ein Tabu, denn der Sabbat ist der heilige Ruhetag.
Als klar wurde, dass die europäische Rundfunkunion, der Ausrichter des ESC, nicht bereit wäre das Finale zu verlegen, gab die israelische Regierung nach und verlegte den Wettbewerb nach Tel Aviv. In der für seine säkularen Partys und die Start-Up-Szene bekannten Metropole sind Sonderbusse für den Tag des Finales - am Sabbat sonst in ganz Israel streng verboten - fest eingeplant. Und fürs große Finale wird selbstverständlich auch den ganzen Samstag geprobt. Für die ultraorthodoxe Partei "Vereintes Thora Judentum" Grund genug, Koalitionsgespräche mit Benjamin Netanjahus Likud Partei vorerst platzen zu lassen.
Doch dies ist nicht die einzige Sorge der Regierung angesichts eines Festivals, das tausende Touristen nach Tel Aviv ziehen und ein weltoffenes friedliebendes Israel präsentieren soll. Gut eine Woche vor dem Start des Wettbewerbs, kam es zu einem weiteren Gewaltausbruch zwischen der Hamas im Gazastreifen und Israel. In Tel Aviv ertönten zwar keine Sirenen, doch in Ashkelon und Ashdod - gerade einmal eine halbe Stunde mit dem Auto von Tel Aviv entfernt - mussten sich die Menschen immer wieder in Bunker flüchten. In nur zwei Tagen feuerten die Hamas und der Islamische Dschihad aus dem Gazastreifen rund 700 Raketen auf Israel ab, vier Israelis wurden getötet, Dutzende verwundet. Die israelische Armee griff mehr als 300 Ziele im Gazastreifen an, nach palästinensischen Angaben wurden dabei 25 Menschen getötet. Ein Alptraum für die israelische Regierung, die den ESC von jeglicher Nahost-Berichterstattung fernhalten möchte.
Wie sicher ist der ESC?
Auch wenn die Gründe für diese Eskalation vielschichtig sind, erklärte der Islamische Dschihad: "Wir werden den Feind davon abhalten, erfolgreich ein Festival abzuhalten, das darauf abzielt, das palästinensische Narrativ zu beschädigen". In Tel Aviv ist die Stimmung dennoch gelassen. Auf der Straße hört man immer wieder diese Sätze: "Die Palästinenser brauchen die Europäer. Sie werden es nicht wagen, während des ESC anzugreifen". Oder auch: "Der ESC bedeutet Spaß. Und er zeigt uns, dass wir ein Land sind wie jedes andere - zumindest glauben wir das für eine kurze Zeit."
"Der ESC wurde vor mehr als 60 Jahren ins Leben gerufen, um Europa nach dem Krieg zu vereinen", sagt Irit Shalev von "Eurofalsh". "Heute wird der Song Contest oft als oberflächlich gesehen, aber in meinen Augen ist er das nicht. Noch immer ist dieser ursprüngliche Geist zu spüren. Innerhalb der ESC-Blase gibt es keinerlei Religion, kein Geschlecht, keine Hautfarbe. Wir sind alle in Musik und Spaß vereint."
"Der Contest hier in Tel Aviv bringt keine Menschen zusammen", sagt hingegen Tanya Rubinstein, "Palästinenser können schlicht nicht hierhin. Ein Palästinenser aus dem Westjordanland braucht eine Genehmigung der israelischen Armee, um hierhin zu kommen und die wird er vermutlich nicht bekommen. Dies ist also keine Feier des Zusammenseins."
Rubinstein arbeitet für die israelische Nichtregierungsorganisation "Koalition von Frauen für Frieden" und sie bereitet sich ganz anders auf den Eurovision Song Contest vor: Sie organisiert Demonstrationen - unter anderem am Abend des Finales vor dem Messegelände, auf dem der Contest stattfindet.
Boykottaufrufe gegen den ESC in Israel
Und damit ist sie nicht die Einzige. Die BDS-Bewegung, die Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel fordert, ruft seit Monaten Staaten und Sänger dazu auf, ihre Teilnahme am Contest in Tel Aviv abzusagen. Mit dabei ist Roger Waters von Pink Floyd, einer der Prominentesten BDS-Fürsprecher, dem immer wieder auch in eigenen Shows Antisemitismus vorgeworfen wird. In dessen Augen dient der ESC der israelischen Regierung dazu, "das brutale israelische Apartheidregime weißzuwaschen".
Die Studentin Shoval Shirom macht das wütend. "Wir haben den Song Contest zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder gewonnen. Wir hatten einfach ein gutes Lied und haben gewonnen. Es ist unser Recht - so wie jedes andere Land - den Contest auszurichten. Die Leute, die gegen den ESC demonstrieren, wollen Israel das Existenzrecht absprechen", meint sie.
Am Rande des Einlaufens der Teilnehmer des ESC beim sogenannten "Orange Carpet" auf Tel Avivs zentralem Habima Platz, kam es bereits zu ersten Protesten. Einige Dutzend junger Demonstranten knieten am Rande des Platzes nieder. Sie trugen T-Shirt mit der Aufschrift "Free Palestine" sowie schwarze Augenbinden und hatten die Arme wie Gefangene hinter dem Rücken verbunden.
Bislang hat kein ESC-Land seine Teilnahme zurückgerufen. Einzig die isländische Band Hatari steht im Verdacht, sich an Protesten beteiligen zu wollen. Am 14. Mai beginnt das ESC-Halbfinale in Tel Aviv. Einen Tag später begehen Palästinenser jedes Jahr ihren Tag der "Nakba", der "Katastrophe", mit der sie an Flucht und Vertreibung nach Israels Staatsgründung 1948 erinnern wollen. Am 18. Mai findet das Finale in Tel Aviv statt.
Irit Shalev hat Tickets für das Finale ergattert. Sie will unbedingt live dabei sein, wenn ihr Landsmann Kobi Marimi vor tausenden Fans aus ganz Europa singt. Tanya Rubinstein kann die Freude nicht teilen. Sie wird vor der Messehalle stehen und versuchen, die Aufmerksamkeit der Fans einen kleinen Moment von der Party weg zu lenken.