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PolitikEuropa

Europawahl: Die Rechte wächst, aber die alte Mehrheit bleibt

10. Juni 2024

Rechte Parteien haben zugelegt - aber die Zahl ihrer Sitze im Parlament nimmt kaum zu. Auf nationaler Ebene ist der Rechtsruck dagegen teils deutlich, besonders in Frankreich und Deutschland. Bernd Riegert berichtet.

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Flaggen vor dem EU-Parlament in Straßburg
Bild: Dwi Anoraganingrum/Panama Pictures/IMAGO

Nach den vorläufigen Endergebnissen der Europawahl in den 27 Mitgliedsstaaten der EU steht fest, dass die sogenannte bürgerliche, informelle Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen nach wie vor eine breite Mehrheit haben wird: 401 von 720 künftigen Abgeordneten im Europaparlament in Straßburg gehören dieser Gruppe an. Diese EU-freundliche Koalition ist im Vergleich zur letzten Legislaturperiode um 16 Mandate geschrumpft, was vor allem an Verlusten bei den Liberalen lag. Die Christdemokraten haben mit ihrer Spitzenkandidatin, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sogar leicht zugelegt um neun Abgeordnete. Die Liberalen und die Grünen sind schwächer geworden und die Rechtsnationalen bis Rechtsextremen sind stärker, aber die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament haben sich nur wenig verschoben. Die bisherigen beiden rechten Fraktionen EKR und ID kommen im neuen Parlament auf zusammen 18,2 Prozent der Mandate. Im alten Parlament waren es 16,7 Prozent- also nur ein Zuwachs um 1,5 Prozentpunkten.

Ist das der viel gefürchtete Rechtsruck im Europäischen Parlament? Nein, sagte Pawel Zerka von der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" der DW am Tag nach der Wahl: "Die größten Auswirkungen dieser Wahl sieht man in den nationalen Hauptstädten und nicht so sehr an der parlamentarischen Vertretung in Brüssel." Das heißt: In einigen Mitgliedsstaaten hat es einen Zuwachs an rechten Stimmen gegeben, in anderen schnitten die rechten Parteien weniger stark ab als erwartet.

Frankreich: Panik bei Macron?

Besonders erschüttert wurde das politische System in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron, ein Liberaler, hat auf das wie erwartet gute Abschneiden der rechtspopulistischen RN mit einer überraschenden Maßnahme reagiert: Da Marine Le Pen mit ihrer Partei die meisten Stimmen bei der Europawahl holte, löste Macron das nationale Parlament auf und rief schon für den 30. Juni Neuwahlen aus.

Emmanuel Macron schaut nachdenklich
Nachdenklicher Präsident Macron am Wahlabend: Parlament auflösen um nationalen Rechtsruck zu verhindernBild: Stephane Lemouton/Bestimage/IMAGO

"Marine Le Pen hat bei der Europawahl ihre Position als stärkste Kandidatin für den nächsten Präsidenten in Frankreich bestätigt", meint Pawel Zerka vom European Council on Foreign Relations. Sie schickt 30 Abgeordnete ins EU-Parlament, Macron nur 13. "Vielleicht können wir so erklären, dass Präsident Macron sich zu Neuwahlen entschlossen hat, um sie zu stoppen. Wir können aber nicht ausschließen, dass Le Pens Wirkung in der französischen Politik sehr schnell größer wird, wenn sie Teil der nächsten Regierung wird." Es könnte sein, dass Präsident Macron jemanden aus den Reihen der Rechtspopulisten zum Premier machen muss, wenn diese die nationalen Parlamentswahlen gewinnen. Macron fährt einen riskanten Kurs. Marine Le Pen hat den Schritt des Präsidenten jedenfalls begrüßt und sieht sich schon als seine Nachfolgerin im Elysee-Palast.

Marine Le Pen vor einem großen Fotos von Jordan Bardella
Marine Le Pen: Wahlkampf um das Präsidentenamt in Frankreich 2027 hat begonnenBild: Julien de Rosa/AFP

Italien: Meloni trumpft auf

Die rechtsnationalen "Fratelli d'Italia" der seit 18 Monaten regierenden Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sind mit 28 Prozent Italiens stärkste Kraft bei der Europawahl. Melonis Truppe in Straßburg wird von 10 auf 24 Abgeordnete anwachsen. Gleichzeitig schrumpft die rechtsextreme Lega von Matteo Salvini von 22 auf 8 zusammen. Die Zahl der Rechtsausleger, die Italien insgesamt entsendet, bleibt also ungefähr gleich. In Rom regieren Meloni und Salvini zusammen mit den Christdemokraten in einer rechten Koalition. Nach den herben Verlusten muss der radikalere Lega-Chef Salvini um den Vorsitz in seiner Partei bangen. Es könnte, so mutmaßen Beobachter in Rom, in nächster Zeit zu einer Regierungskrise kommen, sollte Salvini beschließen, die Koalition mit Giorgia Meloni aufzukündigen, bevor er selbst gehen muss.

Königsmacherin Meloni

Mit dem Rückenwind aus der Europawahl will die sich moderat gebende italienische Regierungschefin jetzt in der EU noch kräftiger mitmischen. Zusammen mit dem RN aus Frankreich, der PiS aus Polen, Fidesz aus Ungarn, der FPÖ aus Österreich und der - derzeit fraktionslosen - AfD aus Deutschland könnte Meloni versuchen, einen rechte "Super-Fraktion" zu bilden. Sie würde an die Stelle der bisherigen beiden rechten Fraktionen ID und EKR treten und hätte mehr Gewicht im parlamentarischen Betrieb. Von einigen Medien wird die Italienerin Meloni als "Königsmacherin" bei Personalentscheidungen gesehen, die an der Spitze der EU nach der Europawahl anstehen. Es war auffällig im Wahlkampf, dass die christdemokratische Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen Meloni als gute Europäerin bezeichnet und eine Zusammenarbeit keinesfalls ausgeschlossen hat. Es könnte sein, dass von der Leyen die Stimmen der Brüder Italiens braucht, um als EU-Kommissionspräsident wiedergewählt zu werden. Bevor es dazu kommen kann, muss von der Leyen von den Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU erst einmal nominiert werden. Da sind Überraschungen keineswegs ausgeschlossen. Und auch im Europäischen Rat hat Giorgia Meloni als Regierungschefin ein Wörtchen mitzureden.

Giorgia Meloni steht mit einem Blumenstrauß neben einem Rednerpult mit dem Logo ihrer Partei und ihrem Namen darauf
Blumen für die Siegerin: Giorgia Meloni vor dem faschistoiden Flammenzeichen in ihrem Parteinamen am Tag nach der EuropawahlBild: Elisa Gestri/Sipa USA/picture alliance

Deutschland rückt im Europaparlament nach rechts

Zwar haben die Christdemokraten die EU-Wahl in Deutschland wie schon 2019 gewonnen und schicken 29 Abgeordneten ins EU-Parlament, aber die in Teilen rechtsextreme AfD gewinnt trotz vieler Skandale unmittelbar vor der Wahl 15 Mandate. Damit liegt sie jeweils vor den drei Parteien SPD, Grüne und FDP, die in Berlin die nationale Regierung tragen. Besonders bitter ist das wohl für den SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Grünen verlieren am meisten, nämlich 9 ihrer bislang 22 Sitze. Die AfD-Führung jubelt, hat sich aber auch ihres zu radikalen Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah, entledigt. Er war der Grund, warum die rechtsextreme Fraktion ID die AfD kurz vor der Wahl hinausgeworfen hatte. Krah darf nun nicht mehr in die AfD-Delegation, damit die Partei im EU-Parlament wieder an ihre rechten Partner andocken kann. Noch ist offen, ob dieses Manöver gelingt.

Polen: Bürgerliche legen zu

Der Regierungswechsel im vergangenen Herbst in Polen von der rechtskonservativen PiS hin zu der christdemokratischen Bürgerplattform spiegelt sich auch im Wahlergebnis bei der Europawahl. Die Christdemokraten übernehmen die Führung, die PiS verliert einige Mandate. Aus Polen kommen also weniger rechtsnationale Abgeordnete nach Straßburg, auch wenn noch nicht ganz klar ist, wo sich die Abgeordneten aus neu entstandenen Parteien und Listen am Ende in die Fraktionen einsortieren werden. Die Parteigruppierungen und deren Namen wechseln in Polen recht schnell. Der führende PiS-Politiker Mateusz Morawiecki sagte der DW in Warschau, seine Partei werde im EU-Parlament nicht mehr für Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin stimmen. Bei ihrer ersten äußerst knappen Wahl 2019 sollen die entscheidenden Stimmen von der PiS aus Polen gekommen sein, was sich aber nicht überprüfen lässt, weil die Wahl geheim war.

Donald Tusk spricht vor vielen Menschen
Regierungschef Donald Tusk freut sich in Polen: Seine Bürgerlichen liegen vornBild: Kacper Pempel/REUTERS

Ungarn: Orban verliert ein wenig

Der sich selbst illiberal nennende Premier Viktor Orban hat mit einer nationalkonservativen Fidesz-Partei im Vergleich zu den letzten Europa-Wahlen Verluste eingefahren. Orbans Partei verliert zwei Sitze, bleibt mit zehn Sitzen aber die stärkste Delegation aus Ungarn. Ihr folgt die neue christdemokratische Partei Tisza von Peter Magyar, die aus dem Stand sieben der 21 ungarischen Mandate bekommen hat. Ungarn fällt in der EU bislang durch Russlandfreundlichkeit und EU-Skepsis auf. Die Opposition sieht die Europawahl als einen Wendepunkt in der innenpolitischen Auseinandersetzung. Viktor Orban hatte sich mit gewohnt schrillen Tönen als Friedenspremier inszeniert, der die Ungarn davor schützen will von der EU in einen Krieg gegen Russland hineingezogen zu werden.

Geert Wilders und Victor Orban geben sich die Hand
Jetzt wird gefeilscht: Wer geht mit wem in eine rechte Fraktion? Niederländer Geert Wilders und Ungar Victor OrbanBild: Vivien Cher Benko/Handout Prime Minister Office Hungary/EPA

Spanien: Mehr rechtsnationale Europaabgeordnete

Die Christdemokraten von der Partido Popular sind die Gewinner der Europawahl. Sie klettern von 13 auf 22 Sitze. Verlierer sind Liberale und Linke. Die Grünen legen ebenfalls zu. Etwa auf gleichem Niveau kann sich mit 20 Sitzen der spanische Regierungschef Pedro Sanchez mit seinen Sozialdemokraten halten. Die rechtsnationale Vox steigert sich von vier auf sechs Sitze. Aus Portugal ziehen erstmals zwei rechtskonservative Abgeordnete ins Europaparlament ein. Linke und Grüne verlieren hingegen. Die iberische Halbinsel tendiert also nach rechts.

Österreich: Skandal-Partei FPÖ im Aufwind

Die rechtsextreme FPÖ in Österreich wurde bei den Europawahlen stärkste Partei, knapp vor den Christdemokraten von der ÖVP. Sie wird sechs statt bisher drei Abgeordnete im EU-Parlament haben. Auch in den Umfragen für die nationale Parlamentswahl liegt die FPÖ mit rund 28 Prozent an erster Stelle. Ihr Vorsitzender, der ehemalige Innenminister Herbert Kickl, will bei den nationalen Wahlen im Herbst jetzt "Volkskanzler" werden, wie er selbst sagt. Ein erstaunliches Comeback in der Alpenrepublik. Dabei schien die FPÖ 2019 noch erledigt zu sein. Damals platzte nach dem "Ibiza-Skandal" um Bestechlichkeit und Korruption der FPÖ-Spitze die Regierungskoalition mit der ÖVP. Dann machte sich die FPÖ zur Stimme der Corona-Leugner in der Pandemie. Im russischen Krieg gegen die Ukraine schlägt sich die FPÖ klar auf die Seite Russlands. Den Wahlberechtigten in Österreich gefällt das offenbar. Christdemokraten, Sozialdemokraten und Grüne sind einigermaßen ratlos.

Ausgerechnet Luxemburg

Das winzige Großherzogtum ist der Sitz vieler EU-Institutionen und profitiert wirtschaftlich sehr von seiner Gastgeberrolle. Der Zwergstaat mit 600.000 Einwohnern ist der reichste in der ganzen Union - und trotzdem haben die Luxemburger zum ersten Mal einen Rechtspopulisten von einer "Alternativen Reformpartei" ins Europaparlament geschickt. Einer von sechs Vertretern aus Luxemburg.

Test für die Demokratie?

Parlamentspräsidentin Roberta Metsola aus Malta hatte die Wahl zur Bewährungsprobe für die europäische Demokratie stilisiert und war kreuz und quer durch die 27 Mitgliedsstaaten gereist, um vor allem bei jungen Wählerinnen und Wählern um Beteiligung zu werben. Erfolg hatte sie damit nicht. Am Test für die EU-Demokratie haben wie bei der letzten Wahl im Durchschnitt 51 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen. Die nationalen Unterschiede sind dabei gewaltig. In Belgien liegt die Beteiligung wegen einer gesetzlichen Wahlpflicht bei fast 90 Prozent, in Deutschland bei 65 Prozent und beim Schlusslicht Slowakei nur bei 34 Prozent.

Jetzt wird verhandelt

Die Größe der Fraktionen im Europäischen Parlament kann sich in den nächsten Tagen noch verändern. Es gibt über 50 neue Abgeordnete im neuen Parlament, die bislang keiner der üblichen Fraktionen zugeordnet werden konnten. Auch die Abgeordneten, die sich bisher als "fraktionslos" gesehen haben, könnten sich in den nächsten Wochen einer Fraktion zuordnen. Das gilt zum Beispiel für die rechtsnationalen Fidesz-Abgeordneten aus Ungarn oder die in Teilen rechtsextreme AfD aus Deutschland.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union