Europas Künstler gegen Nationalismus
9. Oktober 2020Die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes in Berlin oder auch das rigide Vorgehen von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán gegen die Budapester Universität für Theater- und Filmkunst: "Es gibt dringenden Handlungsbedarf", erklärt Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste. Was eine solche Institution, eine Gemeinschaft von Künstlern, tun könne, um undemokratischen und nationalistischen Kräften in Europa entgegenzuwirken? Diese Frage habe sie, wie sie schreibt, seit ihrem Amtsantritt 2015 bewegt.
Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat Meerapfel deshalb zu einer dreitägigen Konferenz nach Berlin eingeladen. Rund 60 Institutionen und Kulturschaffende nehmen teil, darunter der österreichische Autor Robert Menasse, die britische Schriftstellerin A.L. Kennedy, der deutsch-polnische Publizist Basil Kerski, die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der deutsche Zeitgeschichtswissenschaftler Philipp Ther. Zur Debatte steht nicht weniger als die Zukunft Europas, vor allem aber die Sicherung seiner Kunst und Kultur.
Europa als schützenswertes Kulturprojekt
Während Europa auseinanderbricht und sich in neuen Nationalismen ergeht, beschwört Akademiepräsidentin Meerapfel die Kultur als notwendige Konstante. "Gemeinsam wollen wir gegen den Rechtspopulismus in Europa angehen, gegen das Auseinanderdriften der Völker", sagt Meerapfel im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Wir bewahren unsere Identität. Aber wir geben uns die Hand", so Meerapfel. "Wir versuchen zu verstehen, was den anderen bewegt. Das ist wichtig. Sonst überwiegt das Trennende. Dann finden wir gar nicht mehr zueinander. Das haben wir schon einmal erlebt. Und das wollen wir nicht wieder erleben." Am Ende des Kongresses soll ein Manifest die Europäische Union als schützenswertes Kulturprojekt beschreiben.
Wie wichtig dieser Schutz ist, unterstreicht die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot: "In einer Zeit, in der die Grenzen in Europa nicht so sehr zwischen den Ländern als vielmehr innerhalb der Länder selbst liegen - zwischen denen, die an Demokratie und Kultur glauben, und denen, die nicht daran glauben oder sie verachten - wäre eine Europäische Allianz der Akademien ein wichtiges Symbol", so Wajsbrot in einem Statement. "Es wäre ein weiterer Schritt zur Vertiefung der Europäischen Union, die heute noch fast ausschließlich auf der Wirtschaft basiert."
Robert Menasse: Wir können Europa gestalten
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, Autor des ersten Romans über die EU ("Die Hauptstadt", 2017), sieht die Freiheit der Kultur besonders in Ländern wie Ungarn und Polen bedroht. "Verstärkt wird das dadurch, dass die EU viel zu zögerlich ist, sich zu wehren!", so Menasse im Interview mit der Deutschen Welle. Künstler seien die "natürlichen Gegner" des Nationalismus. Auch wenn bisher viel zu wenige das Wort ergriffen hätten. Deshalb sei der Berliner Akademie-Kongress wichtig.
Als Pessimist müsse er sagen: "Am Ende geht es um die Rettung der eigenen Seele", so Menasse. "Ich will, wenn das Elend ausbricht, wenigstens sagen können: Ich habe gewarnt, ich war dagegen!" Dürfte er ein schönes Märchen über Europa schreiben, es würde von einem "ersten nach-nationalen Kontinent" handeln. ″Wir können Europa gestalten. Oder wir müssen es erleiden!"
Auch für Klaus Staeck, den ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste, ist es höchste Zeit, dass Kulturschaffende und ihre Institutionen sich zusammenschließen - schon allein, um mehr für die Opfer von staatlicher Willkür zu erreichen: "Ich wünschte, es hätte bereits eine 'Allianz der Akademien' gegeben, als es darum ging, den chinesischen Künstler Ai Weiwei vor seinem langen Hausarrest zu schützen, den ukrainischen Filmemacher Oleg Senzow aus dem Gefangenenlager in Jakutien herauszuholen und den absurden Schauprozess des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow durch internationale Proteste zu verhindern."
Coronavirus: Fußnote oder Chance?
"Es hat nie einen besseren Zeitpunkt für die Schaffung einer 'Europäischen Allianz der Akademien' gegeben!", glaubt auch der Filmemacher Wim Wenders und verweist auf die Erfahrungen der Corona-Pandemie: "Uns wurden Grenzen von einem Virus auferlegt, das selbst keine Grenzen respektiert. Die 'soziale Distanzierung' hat uns getrennt. Gleichzeitig ließ sie uns in der Isolation vereint fühlen und weckte eine tiefe Sehnsucht nach einem neuen Miteinander." Der Regisseur fragt: "Wird diese Erfahrung am Ende zu einer Fußnote, einer verpassten Chance im Gedächtnis der Menschheit?"
Auch der Berliner Kongress der Akademie der Künste ist von der Corona-Pandemie nicht verschont geblieben. "Die Idee war eigentlich, dass wir uns persönlich treffen. Jetzt müssen wir uns teils über digitale Medien kennenlernen." Aber das sei zu schaffen. "Die Kunst und Kultur", so Meerapfel, "hat immer wieder - nicht Lösungen, aber Wege aufgezeigt. Wege des Denkens, Wege der Aufklärung." Das gelte auch für die Corona-Pandemie.
Gegründet im Jahre 1696, gehört die Akademie der Künste in Berlin zu den ältesten europäischen Kulturinstituten. Sie ist eine internationale Gemeinschaft von Künstlerinnen und Künstlern und hat in ihren sechs Sektionen Bildende Kunst, Baukunst, Musik, Literatur, Darstellende Kunst, Film- und Medienkunst derzeit insgesamt 416 Mitglieder.