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PolitikEuropa

Europa: Kommt die Wehrpflicht wieder?

7. Juni 2023

Nach dem Ende des Kalten Krieges haben viele Staaten in Europa die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft. Nicht erst seit dem Ukrainekrieg wird in einigen Ländern nun über die Wiedereinführung diskutiert. Ein Überblick.

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Junge Rekruten in Tarnanzügen in Reih und Glied mit Gewehren bewaffnet.
Litauen hat die Wehrpflicht 2007 abgeschafft und 2015 wieder eingeführt. Diese Rekruten haben sich jedoch freiwillig zu einer Grundausbildung gemeldet. (Archivbild 2015)Bild: Alfredas Pliadis/Verteidigungsministerium Litauen/picture alliance / dpa

Nach dem Fall der Mauer schien die allgemeine Wehrpflicht ein Auslaufmodell zu sein. In den vergangenen 20 Jahren wurde die Pflicht, sich zum Militärdienst ausbilden zu lassen, in den meisten Länder Europas abgeschafft.

Deutschland etwa hat die allgemeine Wehrpflicht 2011 ausgesetzt. Sie kann nur aktiviert werden, wenn der Bundestag den im Grundgesetz geregelten Spannungs- oder Verteidigungsfall festgestellt.

So oder so ähnlich ist es auch in vielen anderen europäischen Ländern. Von den heute 29 europäischen NATO-Staaten, einschließlich der Türkei, haben seit 1993 nur sechs die Wehrpflicht bis heute beibehalten. Das Vereinigte Königreich, die USA und Kanada haben bereits seit 50 Jahren oder mehr reine Berufsarmeen.

Im Lichte des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat nun ein gewisses Umdenken eingesetzt. Viele Länder haben nicht nur ihre Verteidigungshaushalte aufgestockt, sondern diskutieren auch über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Besonders weit gediehen sind die Debatten bisher nur in wenigen Staaten. Ein Überblick.

Ukraine und Litauen

Bereits kurz nach der Annexion der Krim haben die Ukraine (2014) und Litauen (2015) die Wehrpflicht für Männer zwischen 18 und 26 beziehungsweise 25 Jahren wiedereingeführt. Nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine am 20. Februar 2022 hat die Regierung ein Gesetz erlassen, nach dem alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren zum Dienst in der Armee eingezogen werden können. 

Lettland

Das baltische Land ist einer von drei NATO-Staaten, die an das zusammenhängende Hauptterritorium Russlands grenzen. Die anderen beiden sind Estland und das neue NATO-Mitglied Finnland, die die Wehrpflicht nie abgeschafft haben. Nun will auch Lettland diese wieder einführen. Ab 2024 sollen sukzessive alle 18- bis 27-jährigen Männer eine elfmonatige Soldatenausbildung absolvieren müssen. Von 2028 an sollen jedes Jahr 7.500 Letten einberufen werden - so viele Berufssoldaten hatte das Land laut NATO im Jahr 2022.

Rumänien

Der erste Versuch nach dem Fall der Mauer die Wehrpflicht wieder einzuführen, scheiterte 2015. Nun sprach sich Premierminister und General a.D. Nicolae-Ionel Ciuca im Frühjahr erneut dafür aus. Eine konkrete Forderung des Verteidigungsministeriums lautet, dass sich im Fall einer Generalmobilmachung alle jungen, im Ausland lebenden Rumänen  und Rumäninnen binnen 15 Tagen zur Musterung melden müssen.

Niederlande und Schweden

Den niederländischen Streitkräften fehlen etwa 9.000 Rekruten. Deshalb überlegt die Regierung, die Armee über einen Pflichtdienst aufzustocken, wie es Schweden seit 2018 macht. Das größte Land Skandinaviens hatte 2010 die Wehrpflicht abgeschafft. 2018 wurde sie wieder eingeführt, weil sich nicht genügend Freiwillige für den Militärdienst fanden. Seither müssen sich alle 18-jährigen zur Musterung melden. Wie in Norwegen wird jedoch nur ein kleiner Teil von ihnen rekrutiert.

Verteidigungsminister Pistorius mit mehreren Soldaten in Tarnanzügen in einem Feldlager in Mali
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte bereits kurz nach seiner Amtsübernahme im Januar eine allgemeine Dienstpflicht ins Spiel gebracht. Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Norwegen und Dänemark

Im Heimatland von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg müssen seit 2016 neben allen Männern auch alle Frauen mit 18 Jahren zur Musterung. Allerdings werden nur rund 9.000 der 60.000 Kandidatinnen und Kandidaten, die sich jedes Jahr der Tauglichkeitsprüfung stellen, zum 19-monatigen Militärdienst berufen. Wegen der strengen Auswahl, heißt es in offiziellen Quellen, sei der Militärdienst in Norwegen mit ähnlichem Prestige verbunden wie andere höhere Bildungsabschlüsse. In Dänemark besteht eine Wehrpflicht, es gibt aber genügend Freiwillige, um den Bedarf zu decken.

Frankreich

Frankreich debattiert eine "Wehrpflicht light". Präsident Emmanuel Macron hat 2019 den  "Universellen Nationaldienst" eingeführt. In diesem Rahmen können junge Menschen freiwillig für einen Monat dem Wohl ihres Landes dienen. Nun überlegt die Regierung, dies für alle Französinnen und Franzosen zwischen 15 und 17 Jahren zur Pflicht zu machen. Zwei Wochen davon sollen in militärisch strukturierten Einrichtungen absolviert werden.

Deutschland

Bundeskanzler Scholz hat dem Vorschlag seines Verteidigungsministers Boris Pistorius, eine allgemeine Dienstpflicht einzuführen, eine Absage erteilt. Forderungen nach einer Debatte darüber kommen jedoch in Deutschland aus dem gesamten politischen Spektrum.

Kürzlich hat die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags Eva Högl - wie Scholz und Pistorius von der sozialdemokratischen Regierungspartei SPD - vorgeschlagen, über ein verpflichtendes "Dienstjahr" beim Militär oder in zivilen Einrichtungen zu diskutieren. Militärangehörige sollen in Schulen von ihrer Arbeit berichten.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.