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Fußball-EM 2024: "Wir brauchen ein neues Sommermärchen"

15. Mai 2024

18 Jahre nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 richtet Deutschland die Europameisterschaft aus. Gibt es auch diesmal ein "Sommermärchen"? Der Soziologe und Fußballfan Thomas Druyen würde es sich wünschen.

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Prall gefüllte Fanmeile in Berlin während der Fußball-WM 2006
Prall gefüllte Fanmeile in Berlin während der Fußball-WM 2006Bild: Gero Breloer/dpa/picture alliance

"40 Jahre Selbstzweifel sind von einem ganzen Land abgefallen", befand der Soziologe Thomas Druyen 2006 nach dem "Sommermärchen" der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland: Vier Wochen lang hatten Hunderttausende Fans das Land gefühlt in eine einzige Fanmeile verwandelt und das DFB-Team, den Fußball und auch ein Stück weit sich selbst gefeiert. "Es war nicht nur deutscher Patriotismus, sondern es war schon eine Form des Weltbürgertums, weil man sich gemeinsam freute. Man freute sich nicht gegen jemanden und für etwas, sondern die Freude hat einen Selbstzweck bekommen", sagte Druyen damals in einem Interview, das der bekannte deutsche Filmregisseur Sönke Wortmann führte.

18 Jahre später hat DW-Sport mit dem Wissenschaftler noch einmal über das Sommermärchen gesprochen - mit Blick auf die bevorstehende Europameisterschaft in Deutschland (14. Juni bis 14. Juli).

DW: Wie nachhaltig war aus Ihrer Sicht das Sommermärchen 2006?

Thomas Druyen: Der Fußball ist eine der wenigen Wettbewerbe, in denen selbst Niederlagen Emotionalität nicht oder nur ganz selten in Hass umschlagen lässt. Dieser Sport ist zudem begnadet, weil er Regeln hat, die alle Welt akzeptiert. Die Kraft des Fußballs hat 2006 dazu geführt, dass ein skeptisches, nicht risikoaffines, sondern sicherheitsfanatisches Volk wirklich die Arme öffnete und ein großes Fest feierte. Es war für mich, wie für Millionen andere Menschen, eine Sternstunde in meinem Leben. Die Erinnerung daran ist nachhaltig, im Sinne einer Sehnsucht. Nachhaltig ist auch die internationale Akzeptanz, was unsere Menschlichkeit angeht. Ich bin viel in der Welt unterwegs, und mich hat noch nie jemand bedauert, dass ich aus Deutschland komme. Erschreckend ist allerdings zu beobachten, wie weit wir aktuell von diesem verbindenden Gemeinschaftserlebnis und -gefühl von 2006 entfernt sind. Das ist eine durchaus desaströse Entwicklung. Vielleicht war es wirklich ein Sommermärchen und keine Sommerwirklichkeit.

Soziologe Thomas Druyen im Porträt
Prof. Thomas Druyen: "Vielleicht Sommermärchen und keine Sommerwirklichkeit"Bild: Stefan Zeitz/IMAGO

Nach 2006 haben viele gedacht, von nun an sei Deutschland unwiderruflich das weltoffene Land, als das es sich vier Wochen lang präsentiert hatte. Ist die damalige Heim-WM verklärt worden?

Ich glaube, dass diese Naivität ein Kennzeichen unserer Kultur ist. Wir erleben einen Sieg unserer Lieblingsmannschaft und meinen, dass war die Wende. Wir erleben etwas Schönes im Privatleben oder Beruf und meinen, es bleibt so. Diese gewisse Gutgläubigkeit war damals ein Teil der Euphorie. Wir haben gedacht, das bleibt so. Aber wir haben nicht erkannt, dass man dafür etwas leisten muss. So eine Atmosphäre kann man nicht einfach aus dem Hut zaubern. Vor allen Dingen nicht, wenn es einem nicht gut geht. Wir müssen nach den Kriterien fragen, die dieses wünschenswerte Ereignis möglich gemacht haben. Denn so eine positive Stimmung verbessert das Leben - und entlastet auch die Psychotherapeuten.

Wir haben jetzt einige ähnliche Voraussetzungen wie 2006: ein Team, dem man bis vor Kurzem nichts zutraute, ein relativ neuer Trainer, der auch vor drastischen Schritten nicht zurückschreckt. Für wie wahrscheinlich halten Sie ein neues Sommermärchen bei der anstehenden Heim-EM?

Nichts würde ich uns mehr wünschen. Nichts würde ich aber im Moment mehr ausschließen, weil die gesellschaftlichen Bedingungen nicht dazu passen und auch nicht unsere Bereitschaft, über uns selbst hinauszuwachsen. Unsere Gesellschaft ist tief frustriert. Aus so einer Stimmung heraus loszulassen, ist - wenn überhaupt - nur möglich, wenn Deutschland ins Endspiel kommt. Eine Euphorie kann nicht aufkommen, wenn die eigene Mannschaft ausscheidet. Die sportliche Krise der Nationalelf in den letzten Jahren war ein Spiegelbild unserer seelischen Verfassung. Der Fußball durchlief die gleichen Probleme wie unsere Gesellschaft. Die lange Erfolglosigkeit hatte auch psychische Gründe. Selbst tolle Spieler kamen in der Mannschaft nicht zurecht.

Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm und Torsten Frings (l.-r.) bejubeln Lahms Tor zum 1:0 im Vorrundenspiel gegen Costa Rica.
Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Torsten Frings (l.-r.) und Co. begeisterten 2006 die FansBild: Florian Eisele/Pressefoto ULMER/picture-alliance

Ukrainekrieg, Nahostkonflikt, andere ungelöste Probleme - viele Menschen in Deutschland sind verunsichert und in einer eher depressiven Grundhaltung. Wie kann man es schaffen, die Freude wieder wie 2006 zum Selbstzweck zu erheben?

Unsere Position in der Welt, der Zustand unseres Landes, etwa der Medizin, unsere technischen Möglichkeiten stehen international immer noch sehr weit oben. Ja, wir haben etwa zehn Prozent der Bevölkerung, deren Situation wirklich anders werden sollte oder muss. Aber in den meisten anderen Gesellschaften sind es dreißig oder vierzig Prozent. Wir haben faktisch eine deutlich bessere Position, als sie empfunden wird. Es hat also mit Wahrnehmung zu tun. Wenn wir unsere Sorgen 90 Minuten lang ausblenden können und uns einfach nur gemeinsam am Fußballspiel erfreuen, in der Familie oder beim Public Viewing, bedeutet das ein Stück Lebensqualität. Gerade weil die Voraussetzungen jetzt so schlecht sind, sollte es für uns ein Ansporn sein zu sagen: "Mensch, jetzt lass‘ doch mal los! Wir feiern gemeinsam." Es ist eine historische Gelegenheit, die emotionale Sackgasse zu überwinden, in der wir uns gerade befinden. Nehmen wir das Beispiel Borussia Dortmund. Die Bundesliga-Saison verlief eher enttäuschend. Aber jetzt steht der BVB im Champions-League-Endspiel. Was für eine Euphorie, was für eine Freude! Da werden auch viele Leute Seite an Seite stehen, die sich vorher nicht mochten.

Im Gegensatz zu 2006 gibt es heute im Bundestag die AfD, eine rechtspopulistische, in Teilen rechtsextremistische Partei. Sehen Sie die Gefahr, dass diese Szene ein neues Sommermärchen für sich instrumentalisieren könnte?

Wenn es ein Sommermärchen geben sollte, hätte es eine einigende Kraft. Keine Gruppe könnte es für sich in Anspruch nehmen, weder rechts noch links. Das Gemeinschaftsgefühl würde die Menschen wieder einander näherbringen und nicht auseinandertreiben. Die Nationalmannschaft ist eine diverse Gruppe, in der viele kulturelle Elemente vertreten sind. Wenn man sie feiert, widerspricht man rassistischen Argumentationen. Deshalb sehe ich nicht die Gefahr, dass ein großer Erfolg von den Rechten instrumentalisiert werden kann. Anders sieht es aus, wenn es in die Hose geht und das DFB-Team früh ausscheidet. Dann würde dies sicherlich als Beleg für eine Gesellschaft angeführt, die nicht mehr funktioniert.

Torwarttrainer Andreas Köpke, Teamchef Jürgen Klinsmann, Co-Trainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (l.-r.) bei der WM-Feier auf der Fan-Meile am Brandenburger Tor.
Euphorie um DFB-Team 2006: Torwarttrainer Andreas Köpke, Teamchef Jürgen Klinsmann, Co-Trainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (l.-r.)Bild: picture-alliance/dpa

Studien haben gezeigt, dass das Sommermärchen 2006 zu einem deutlichen Imagegewinn Deutschlands geführt hat. Hat das Land einen solchen Schub wieder nötig?

Der Imageschub damals war gewaltig, geradezu exponentiell. Wir haben ihn nach den Jahrzehnten zuvor auch gebraucht und verdient. Dieses Image ist danach nicht nennenswert eingebrochen. Es gibt zwar durchaus einige Menschen auf der Welt, die uns wieder als hartherzig bezeichnen würden. Aber im Gros ist unser Image auf einer viel besseren Ebene als vorher. Das liegt auch daran, dass Deutschland überall auf der Welt helfend unterwegs ist und Hoffnungslosen eine Perspektive bietet. Darauf sollten wir stolz sein. Deshalb würde ich sagen: Jetzt brauchen wir ein Sommermärchen für uns selbst und nicht, um unsere Reputation in der Welt aufzubessern.

Brauchen wir auch gutes Wetter? 2006 hatten wir während der WM in Deutschland vier Wochen lang Sonnenschein.

Natürlich entwickelt sich Euphorie nur selten unter dem Regenschirm oder wenn man sogar durchnässt ist. Wir brauchen schönes Wetter, auf keinen Fall Regen. Man sieht, von wie vielen Faktoren ein Sommermärchen abhängt. Noch besser wäre es allerdings , wenn wir alle in der Lage wären, uns emotional so einzustellen, dass wir auch gemeinsam im Regen feiern können.

 

Thomas Druyen, geboren in Viersen nahe Düsseldorf, ist ein deutscher Soziologe. Der Professor leitet seit 2015 das von ihm gegründete Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien und ist Präsident der opta data Zukunfts-Stiftung in Essen. Der 66-Jährige bekennt sich zu seiner Fußballleidenschaft.

Das Interview führte Stefan Nestler.

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter