Kein Durchbruch für EU-Skeptiker
27. Mai 2019Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hatte die Europawahl schon vor Monaten zur alles entscheidenden Schicksalswahl erklärt. In der letzten Zeit hatte er sogar davon gesprochen, dass bei der Wahl über den Fortbestand oder den Untergang des christlichen Europas entschieden werde. Er hatte düstere Visionen eines Kontinents ausgemalt, auf dem eine verantwortungslose, liberal-kosmopolitische Elite einen Bevölkerungsaustausch vornimmt und deren bald zur Minderheit werdenden christliche Einwohnerschaft demnächst Scharia-ähnliche Zustände ertragen muss. Angesichts dieser Vision hatte Orbán im Europawahlkampf für sich als Retter des christlichen Europas geworben.
Es war eine Wahlkampfstrategie der extremen Polarisierung, so wie man es von Orbán seit über zwei Jahrzehnten gewohnt ist. Auch in nahezu allen anderen mittel- und südosteuropäischen Ländern haben sich nationalistische, EU-skeptische und populistische Parteien im Europawahlkampf dieser Strategie bedient, haben vor dem Verlust nationaler und christlicher Identitäten, vor Migrationsgefahr und vor Liberalismus gewarnt. Am Tag nach der Wahl steht fest: Sie hatten mit dieser Strategie nur eingeschränkt oder keinen Erfolg. Der große Durchbruch der rechtsnationalen Kräfte in den osteuropäischen EU-Ländern ist ausgeblieben.
Fidesz stark, aber nicht zu stark
Dabei scheinen die Zahlen vor allem Ungarns Premier Orbán Recht zu geben. Seine Partei Fidesz erzielte rund 52 Prozent und insgesamt so viele Stimmen wie noch nie zuvor bei einer Wahl. Doch trotz des "epochalen Sieges" (Orbán) konnte Fidesz nicht, wie erhofft, zwei Drittel der 21 ungarischen EP-Sitze erringen, sondern nur 13. So schlug Ungarns Premier gestern am späten Abend auch vergleichsweise zurückhaltende Töne an, als er den Wahlsieg seiner Partei verkündete und mehrfach betonte, dass Europa Ungarns Heimat sei. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte auch der Blick auf seine Verbündeten in den osteuropäischen Nachbarländer sein, vor allem in den anderen Visegrád-Ländern Polen, Tschechien und Slowakei.
In Polen konnte die PiS von Jaroslaw Kaczynski mit knapp 46 Prozent zwar stärkste Kraft werden und erzielte damit einen ihrer bisher größten Erfolge. Doch die beiden pro-europäischen Kräfte "Europäische Koalition" (KE) und "Wiosna" (Frühling) liegen zusammen nur anderthalb Prozentpunkte hinter PiS - ein wichtiger Oppositionserfolg vor der nationalen Parlamentswahl im Herbst.
In Tschechien konnte ANO, die wirtschaftsliberale, populistische Partei des Ministerpräsidenten Andrej Babis zwar mit 21 Prozent stärkste Kraft werden, verlor jedoch im Vergleich zu den nationalen Parlamentswahlen von 2017 deutlich. Auch andere nationalistische und euroskeptische Parteien verloren, einzig die mäßig euroskeptische Partei, die "Demokratische Bürgerpartei" (ODS), konnte deutlich zulegen.
Linksliberale gewinnen in der Slowakei
In der Slowakei erlitt die regierende, nominell sozialdemokratische, faktisch aber in vielerlei Hinsicht populistische Partei SMER-SD eine schwere Niederlage - sie erhielt nur knapp 16 Prozent gegenüber 28 Prozent bei der letzten Parlamentswahl 2016. Großer Sieger hingegen ist die linksliberale Koalition aus den Parteien "Progressive Slowakei" (PS) und "Zusammen" (Spolu). Die kürzlich gewählte liberale, pro-europäische Staatspräsidentin Zuzana Caputova gehörte bis zu ihrer Wahl im März dieses Jahres der PS an.
Auch in Estland und Rumänien schnitten nationalistische und europa-skeptische Parteien schlechter ab als erwartet oder erlitten Niederlagen. Die in Estland seit kurzem an der Regierung beteiligte Rechtsaußenpartei Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) musste im Vergleich zur Parlamentswahl im März deutliche Verluste hinnehmen. Eine herbe Niederlage erlitt in Rumänien auch die regierende Sozialdemokratische Partei (PSD), die seit langem einen nationalistisch-populistischen Kurs fährt.
Ungeachtet der Erfolge von Marine Le Pen in Frankreich und Matteo Salvini in Italien beginnt für viele Nationalisten, EU-Skeptiker und Populisten in mittel- und südosteuropäischen Ländern nun erst einmal eine Zeit längerer Neuorientierung oder parteiinterner Umwälzungen. Im Europaparlament sind EU-Skeptiker und Populisten zersplittert, zudem gehören einige zu Mainstream-Fraktionen wie die tschechische ANO (ALDE), die slowakische SMER-SD und die rumänische PSD (Sozialisten und Sozialdemokraten) oder auch Orbáns Fidesz (EVP, seit März 2019 suspendiert).
In der slowakischen SMER-SD und der rumänischen PSD bahnen sich nach den Wahlverlusten parteiinterne Machtkämpfe an. Starke Konflikte haben beide Parteien unter anderem wegen ihrer populistischen Rhetorik auch mit den europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten. Ein solcher Konflikt könnte sich auch zwischen der tschechischen ANO und der ALDE-Fraktion anbahnen, wenn der tschechische Premier Babis seine populistische Rethorik nicht abschwächt.
In Ungarn wiederum muss sich Viktor Orbán entscheiden, ob er nach seinen hartnäckigen Europa- und EVP-kritischen Provokationen der letzten Monate konstruktive Schritte unternimmt, um in der EVP zu bleiben, oder ob er ein Bündnis mit Rechtspopulisten eingeht. Beides dürfte für Orbán mit einem politischen Gewichtsverlust einhergehen, falls er einen EVP-Verbleib anstrebt, auch mit einem Gesichtsverlust. Orbán erschien nach dem Ende der Wahl am gestrigen Abend selbst etwas ratlos. Eines steht jedoch bereits fest: Die von ihm verkündete Entscheidungsschlacht um Europa hat bisher nicht stattgefunden. Und eine konzertierte Offensive von EU-Skeptikern und Populisten ist nicht in Sicht.