Vernetztes Estland
7. Mai 2014Deutsche Welle: In Estland ist der "Internetzugang für alle" in der Verfassung festgeschrieben. In Tallinn gibt es extra Hinweisschilder mit der Aufschrift "@Internet", die in Europa einzigartig sind - und die anzeigen, wo ein freier und kostenloser WLAN-Zugang zur Verfügung steht. Wie erleben Sie Ihren digitalen Alltag?
Sandra Länts: In Estland haben wir fast überall freies WLAN. Das ist für uns eine ganz normale Sache. Einen Internetzugang haben auch alle, die Smartphones besitzen. Überall ist es in Estland verbreitet. Sogar in Moorgebieten kann man mit 3G oder 4G online gehen. Alle Restaurants, alle Bars haben ihren eigenen WLAN-Hotspot und der ist bei uns dann kostenlos. Egal wo du in der Stadt bist, kannst du dich einfach anmelden und online gehen.
Ich habe immer mein Handy dabei. Und wenn nicht, dann fühle ich mich nicht vollständig. Ich bin davon total abhängig. Zum Beispiel bekomme ich meine Fahrpläne und ganz andere alltägliche Informationen immer im Internet und nutze ganz viele Apps. Ohne Smartphone geht es bei mir nicht mehr.
Aber Estland ist ja nicht nur wegen seines großen Breitbandinternet-Ausbaus digitaler Vorreiter in der EU. Was beispielsweise in Deutschland nicht geht, ist in Estland mit der sogenannten Identitätskarte Alltag. Sie ist ein Personalausweis, der mehr kann: Arztbesuche werden darauf registriert, Medikamente können mithilfe der Karte in der Apotheke abgeholt werden oder Esten können online wählen. Über hundert staatliche Dienstleistungen können Esten mit dem elektronischen Ausweis erledigen. Wenn so viele Schnittstellen des Lebens an einem zentralen Ort gespeichert sind, dann müssen die Bürger ihrem Staat doch sehr vertrauen, oder?
Mit der Karte kann man alles machen: Online-Banking, wählen, Flugtickets kaufen. Ich habe das nicht, weil ich mir nicht so sicher bin. Ich gehe auch lieber bei den Wahlen persönlich ins Wahlbüro, um meine Stimme abzugeben. Ich habe keine Ahnung, was sonst mit meiner Stimme oder meinen Daten passiert. Viele Esten sind seit ihrer Einführung 2005 immer noch skeptisch und ich auch, weil ich vieles online mache.
Das Internet ist für Ihre Generation in Estland selbstverständlich. Woher kommt trotzdem diese Skepsis?
Meine Skepsis ist während meines Aufenthalts in Deutschland gewachsen. In Estland zahlt fast jeder mit EC- oder Kreditkarte. Aber in Deutschland habe ich erst gelernt, dass nur echtes, greifbares Geld zählt. Bar ist wahr sozusagen. Seitdem bezahle ich so wenig wie möglich mit Karte. Ich will nicht, dass jemand meinen Bewegungen folgt. Meine Bank könnte dann ja alles sehen, was ich mache. Und davor habe ich ein wenig Angst.
Bei der Steuererklärung sehen viele Deutsche rot: der zeitliche Aufwand oder das Jonglieren mit Zahlen machen das Ausfüllen einer Steuererklärung unattraktiv. In Estland wird die Steuererklärung automatisch vom Finanzamt gemacht. Das ist dann doch ein großer Vorteil des Datenaustauschs, oder?
Wenn ich mein Gehalt auf mein Konto bekomme, dann ist da immer eine Erklärung mit einer Meldung dabei, dass die Steuererklärung fällig wird - meistens im Frühjahr. Dann klicke ich einfach, auf welches Bankkonto ich mein Gehalt bekomme und dann kann ich da sehen, wann ich was bekommen habe. Das Finanzamt rechnet automatisch aus, wie viel Steuern ich gezahlt habe, wie viel ich zurückbekommen sollte. Das dauert nur fünf Minuten und anschließend weiß ich genau, wie viel ich bekommen sollte. Das muss ich dann nur mit einem Klick bestätigen und dann ist das Geld in der nächsten Woche auf meinem Konto. Nachteile sehe ich da erst einmal nicht.
Wie haben Sie Ihren digitalen Aufenthalt in Deutschland erlebt?
Der erste Monat in München war für mich ein Schock. Dort gab es nirgendwo kostenloses WLAN. Aber später ging das, weil ich einen Internetstick gekauft habe. Was mich aber am meisten gewundert hat, das waren die riesigen Papierstapel, die ich für mein Studium an der Universität brauchte. Es gab immer so viel Papier zu sammeln, auszufüllen und abzugeben. Ein Beispiel: In Estland kann man sich als Bürger online in der Stadt anmelden. In Deutschland muss man das immer vor Ort machen. Das fand ich irgendwie komisch. Und viel Arbeit war es für mich auch, weil ich immer dahin gehen und deshalb meinen kompletten Tag drum herum koordinieren musste. Und auch von meiner Bank habe ich immer jeden Monat Post bekommen, wo ich wie viel Geld abgehoben habe. Das war lustig für mich.
Wenn ich in Deutschland mit dem Zug unterwegs war, hatte ich immer Probleme mit dem Internet. Das war dann sehr schlecht und ist immer abgebrochen. Hier habe ich nie Probleme, weil wir in allen Bussen und Zügen WLAN haben. Das ist ganz schön.
Sandra Länts arbeitet am Goethe-Institut in Tallinn. Die gebürtige Estin organisiert Privates und Beruf fast nur per Internet Sie studiert an der Tallinner Universität Germanistik und war für ein Austauschjahr an der Universität Bamberg. Und auch privat reist sie durch Europa und sammelt Erfahrung mit der E-Kultur.
Das Interview führte Sabrina Pabst.