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GesellschaftDeutschland

Kompliziert: Die Deutschen und ihre Fahne

8. Juli 2021

Die Deutschen haben eine komplizierte Beziehung zu ihrer Nationalflagge, die sie fast nur bei Sportveranstaltungen schwenken. Was steckt hinter dieser Zurückhaltung?

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Fußball EM - England - Deutschland
Vor dem EM-Spiel England - Deutschland: Deutsche Fußballfans warten auf der Tribüne auf den SpielbeginnBild: Christian Charisius/dpa/picture alliance

Zwei Wochen lang wehten hierzulande vielerorts Deutschlandfahnen an Autos, Balkonen und in Schrebergärten. Von der ersten Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich bis zur letzten gegen England waren sie sichtbarer Ausdruck eines fröhlichen Patriotismus. Auch viele Gesichter waren schwarz-rot-gold bemalt. Jetzt liegen Fahne und Gesichtsfarbe wieder im Schrank: Deutschland hat sich im Achtelfinale aus der Europameisterschaft verabschiedet.

Deutschland München | UEFA EURO 2020 | Portugal vs Deutschland
Im Fußballstadion ist das Zeigen und Tragen der deutschen Nationalfarben selbstverständlich geworden. Und außerhalb?Bild: Matthias Schrader/AP Photo/picture alliance

Die Weltmeisterschaft 2006 hat einen Wendepunkt markiert, was den Umgang der Deutschen mit ihrer Fahne angeht. "Die Welt zu Gast bei Freunden" hieß das offizielle Motto damals. Die Deutschlandfahne wurde zum ersten Mal massenhaft geschwenkt.

Harald Biermann, Vertreter des Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte
Harald Biermann ist Vertreter des Präsidenten der Stiftung Haus der GeschichteBild: Axel Thünker/Haus der Geschichte

Harald Biermann ist Kommunikationsdirektor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) in Bonn. Das HdG ist ein Museum, das sich auf deutsche Zeitgeschichte spezialisiert hat. 2006 sei ein "Durchbruch" gewesen, so Biermann: "Wenn Sie die Stadien zwischen 1974 und 2006 vergleichen, sehen Sie den gewaltigen Unterschied. 1974 gab es einige, die eine Fahne hatten. 2006 hatte fast jeder so eine Fahne. Das war ein Moment, wo die Deutschen sich dann zu ihrer Flagge bekannt und diese fröhlich geschwenkt haben."

Die Fahne ist natürlich nicht nur ein Fanartikel, wie auf der Webseite des Deutschen Bundestages nachzulesen ist: "Die Deutschen identifizieren sich mit diesen Farben wie nur selten zuvor in ihrer wechselvollen Geschichte, was nicht nur bei Fußball-Weltmeisterschaften vielerorts zum Ausdruck kommt." Ist das die Realität oder Wunschdenken?

Vorbelastete nationale Gefühle

Es gibt kaum ein anderes Land, in dem die Beziehung der Bürger zur eigenen Fahne so kompliziert ist wie in Deutschland, erklärt Biermann im Gespräch mit der DW. Damit sei Deutschland unter den entwickelten Industrieländern die "absolute Ausnahme", betont Biermann.

Natürlich hat jede Gesellschaft ihre ganz eigene Art, mit nationalen Symbolen umzugehen. Und oft sind diese Besonderheiten Außenstehenden nicht auf den ersten Blick verständlich. Was in vielen anderen Ländern  selbstverständlich ist, zum Beispiel das Tragen eines T-Shirts mit dem Slogan "Vive la France!" oder "God bless America!", ist nicht leicht auf Deutschland zu übertragen. Gleiches gilt für den Umgang mit der deutschen Fahne. Aber woran liegt das?

Harald Biermann erklärt das mit einem Blick auf die jüngste Geschichte: "Grundsätzlich muss man festhalten, dass die Deutschen eine schwierige Beziehung zu nationalen Gefühlen haben. Und die Farben Schwarz-Rot-Gold werden mit diesen Gefühlen verbunden. Durch die Geschichte des Nationalsozialismus tun sich viele schwer mit ihrer Haltung zur Nation und zu nationalen Gefühlen. Das ist eine Belastung, die weiter vorherrscht und unsere Beziehung zur Nation in Mitleidenschaft zieht."

Kein Symbol der Nazis

Enrico Brissa ist der Autor des Buches Flagge zeigen! Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen. "Unser Umgang mit den Symbolen von Staat und Nation ist deshalb von Irrungen und Wirrungen geprägt, weil unser Verhältnis zu unserem Staat und unserer Nation wenig konstant war und immer wieder neu diskutiert wurde und wird", so Brissa.

Lützowsches Freikorps
Schwarze Uniform, rote Paspeln, goldene Knöpfe - Mitglieder des Lützowschen Freikorps (links im Bild) auf einer Postkarte aus den 1850er JahrenBild: gemeinfrei

Zahlreiche Symbole aus der Zeit des Nationalsozialismus sind in der Bundesrepublik gesetzlich verboten oder werden vermieden. Das "Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" kann mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Dazu zählen zum Beispiel das Hakenkreuz und auch der Hitlergruß. Schwarz-Rot-Gold aber habe nichts mit dem Nationalsozialismus oder einer Diktatur zu tun, so Biermann: "Ganz im Gegenteil. Schwarz-Rot-Gold ist im Nationalsozialismus nicht benutzt worden, sondern die Hakenkreuzfahne ist zum Nationalsymbol geworden."

Die Nationalfarben tauchen als Kombination zum ersten Mal in den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 gegen Napoleon auf: Sie wurden von den Lützowschen Freikorps, einem Freiwilligenverband der preußischen Armee, als Uniformfarbe verwendet. Ihre Uniform bestand aus schwarzem Tuch, roten Paspeln und goldenen Knöpfen. Die Farben haben sich in den folgenden Jahren verbreitet. 1848 wurde die Fahne aus diesen drei Farben von der Frankfurter Nationalversammlung zur offiziellen Fahne des Deutschen Bundes bestimmt.

Schwarz-Rot-Gold sei damals die Fahne gewesen, "unter der sich die Liberalen und die Demokraten versammelt haben, um in der Nationalbewegung einen gemeinsamen Staat zu gründen." Sie sei dann 1919 in der Weimarer Republik "als Fahne der ersten deutschen Demokratie etabliert worden". Die Fahne wurde aber mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten außer Kraft gesetzt. "Schwarz-Rot-Gold ist wirklich vollständig unbelastet in jeglicher Hinsicht“, so Biermann.

Deutschland Demonstration gegen angeblichen Asylmissbrauch
Die Deutschlandfahne wird oft von Rechtsextremen missbraucht: Eine Demo gegen angeblichen Asylmissbrauch und neue Flüchtlingsheime in Frankfurt (Oder), 2015Bild: picture alliance/dpa/ZB/P. Pleul

"Schleichende Umdeutung der Nationalfarben" seit 2014

Die Deutschlandfahne wird allerdings oft von Rechtsextremen missbraucht.

"Seit Herbst 2014 haben wir es auch noch mit einer schleichenden Umdeutung unserer Nationalfarben zu tun. Die Freude über den WM-Sieg in Brasilien war noch nicht verklungen, da begannen wenige Monate später die Pegida‑Demonstrationen in Dresden. Seither wurde Schwarz‑Rot‑Gold zu einem ständigen und überall sichtbar gemachten Begleiter rechter 'Anti-System'-Proteste", sagt Autor Enrico Brissa. "Die große Präsenz auf der Straße wurde durch die noch größere in den sozialen Medien übertroffen. Seither glauben zu viele Mitbürger, Schwarz-Rot-Gold sei ein Symbol der extremen Rechten, was natürlich Unsinn ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte in eine Rede im November 2020, man dürfe die deutsche Fahne nicht den Rechtsextremen überlassen: "Schwarz-Rot-Gold, das sind die Farben unserer demokratischen Geschichte. [...] Wir dürfen nicht zulassen, dass sie von denen vereinnahmt und missbraucht werden, die neuen nationalistischen Hass entfachen wollen." 

Wissens- und Bildungslücke

Laut Biermann ist eine der Ursachen für den unsicheren Umgang mit der Deutschlandfahne das mangelnde Wissen um die Bedeutung und Geschichte von Schwarz-Rot-Gold. "Schwarz-Rot-Gold ist ein Symbol, von dem viele Deutsche eben nicht wissen, wofür es eigentlich steht. Da muss man auch ehrlich sagen, dass das auch ein Versäumnis in der Schule ist." Deswegen seien Menschen sich nicht sicher, was die Farben der Nationalflagge Deutschlands bedeuten.

Leichtathletik-EM Olympiastadion Berlin
Deutsche Fans bei der Leichtathletik-EM 2018 in BerlinBild: picture alliance/dpa

Und Brissa setzt sich dafür ein, das Bewusstsein für Schwarz-Rot-Gold zu stärken. "Es geht darum, mehr Menschen dazu zu bringen, positive Gefühle für die Symbole unseres Staates zu entwickeln, sich mit ihnen zu verbinden, weil sie ihren Sinn und Gehalt besser verstehen."

2022 findet die nächste Fußball-Weltmeisterschaft statt, für die Deutschland sich erst noch qualifizieren muss. Spätestens dann wird man die Fahne erneut entstauben und hoffentlich fröhlich schwenken können.

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.