Ermuntert die EU Serbien zu aggressivem Verhalten?
8. Dezember 2024In der vergangenen Woche erlebte die Republik Kosovo eine Anschlagsserie: Zunächst explodierten Handgranaten neben einer Dienststelle der kosovarischen Polizei im Ort Zvecan im überwiegend serbisch bewohnten Norden des Landes. Einige Tage später explodierte eine Handgranate am Rathaus von Zvecan. Kurz darauf wurde ein wichtiger Wasserkanal unweit der Stadt Mitrovica durch eine Explosion beschädigt, der für die Wasserversorgung von Bewohnern im Norden Kosovos und zur Kühlung eines Kraftwerks wichtig ist.
Noch ist unklar, wer hinter der Attacke steht. Die Regierungen Serbiens und Kosovos beschuldigen sich gegenseitig, die Urheber zu sein. Doch der Anschlag auf den Wasserkanal wurde von der EU als "Terrorangriff" verurteilt: "Es handelt sich um einen verabscheuungswürdigen Sabotageakt gegen die kritische zivile Infrastruktur Kosovos", so der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Unabhängig vom Ausgang der Untersuchungen lässt sich feststellen, dass es bereits seit 2022 eine Kette von Gewaltakten und Drohungen aus Serbien gegen Kosovo gibt. Im September vergangenen Jahres griff eine aus Serbien eingesickerte und mit Waffen aus Beständen der serbischen Streitkräfte ausgerüstete paramilitärische Gruppe kosovarische Polizisten an. Bei dem von der EU verurteilten "Terrorakt" kamen vier Menschen ums Leben. Brüssel drohte Sanktionen an, beließ es aber dabei. Später setzte Serbiens Präsident Aleksandar Vucic seine Streitkräfte in Richtung Kosovo in Bewegung. Nur Interventionen der USA und der NATO veranlassten Vucic, seine Panzer zu stoppen. Ein ähnliches Szenario hatte sich bereits im Dezember 2022 ereignet.
"Serbische Welt"
Bei EU-Vermittlungen im März 2023 einigten sich dann Vucic und Kosovos Premier Albin Kurti mündlich, die Beziehungen zu verbessern. Am selben Abend sagte Vucic im Fernsehen auf die Frage, wann das Abkommen unterzeichnet werde: "Ich habe unerträgliche Schmerzen in meiner rechten Hand, ich kann nur mit der rechten Hand unterschreiben, und diese Schmerzen werden voraussichtlich die kommenden vier Jahre anhalten."
Im Mai 2023 folgten dann serbische Angriffe auf die NATO-Friedenstruppe KFOR, bei denen 90 Soldaten teils schwer verletzt wurden. Nach der KFOR-Aufstockung Ende letzten Jahres auf knapp 5000 Soldaten legte sich die Gewalt im Kosovo.
Im Juni 2024 fand in Belgrad eine von Vucic geleitete Regierungskonferenz statt, deren Ziel die Realisierung des Konzeptes der "Serbischen Welt" (Srpski Svet) war. Der Name lehnt sich an das Konzept der "Russischen Welt" (Russkij Mir) an; Srpski Svet ist die adaptierte Neuauflage des Projektes "Großserbien", das der serbische Präsident Slobodan Milosevic während des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er Jahren verfolgte, nämlich die Vereinigung aller von Serben bewohnten Gebiete.
Lob von der EU-Kommissionspräsidentin
Bereits im April 2024 hatte der NATO-Oberbefehlshaber für Europa, US-General Christopher Cavoli, eindringlich vor neuen bewaffneten Konflikten auf dem Westbalkan gewarnt. Russland schüre mittels serbischer Akteure Spannungen in der Region und versuche, die verschiedenen Ethnien gegeneinander aufzubringen. "Die Angriffe auf Kosovo-Polizisten und ein serbischer Truppenaufmarsch an der Grenze zu Nordkosovo stellte die höchste Gefahr von zwischenstaatlicher Gewalt seit dem Ende des Krieges 1999 dar und illustrierte die besorgniserregende Bedrohungsstufe in der Region", so Cavoli.
Diese - teils gewaltsamen - Ereignisse wurden beim Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Oktober 2024 bei Vucic in Belgrad nicht thematisiert. Vucic und seine Regierung wurden ausdrücklich gelobt und belohnt: Von der Leyen attestierte Vucic einen "großartigen Job" hinsichtlich des "exzellenten Reform-Programms" gemacht zu haben und kündigte Finanzhilfen für Serbien in dreistelliger Millionenhöhe an. "Lieber Aleksandar", sagte von der Leyen, "Du hast gezeigt, dass Du entschlossen bist, die Reformen voranzutreiben, insbesondere bezüglich der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Du hast gezeigt, dass Deinen Worten Taten folgen!"
Hybrides Regime
Dem Lob der EU-Kommissionspräsidentin stehen zahlreiche Analysen renommierter Institute und NGOs gegenüber: Bei der Rechtsstaatlichkeit liegt Serbien laut dem World Justice Projekt zwischen Benin und China auf Platz 94. Alle ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens stehen besser da, Kosovo beispielsweise auf dem 58. Platz. Laut Transparency International befindet sich Serbien auf Platz 104 von 180 des Korruptionsindex. Human Rights Watch zeichnet ein düsteres Bild der Pressefreiheit, und Wahlbeobachter haben die Wahl im Dezember 2023 als weder frei noch fair kritisiert. Freedom House nennt das serbische Regime schon seit geraumer Zeit "hybrid", also zwischen Demokratie und Autokratie stehend.
Aktuell greift die serbische Regierung zu repressiven Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft im Zuge der Proteste gegen den geplanten Lithium-Abbau und den Kollaps eines Bahnhofvordachs in Novi Sad, bei dem über ein Dutzend Menschen starben. Das im Inneren immer nervöser reagierende Regime Vucics intensiviert parallel hierzu dramatisch die Kontakte zu den Regierungen Russlands, Chinas, Belarus' und Irans und zwar auf militärischer, sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Ebene. So scheint die mangelnde Kritik der EU, gepaart mit enorm hohen unkonditionierten Finanzhilfen, genau das Gegenteil des gewünschten Ziels zu erreichen, nämlich den Westbalkan zu beruhigen.
Rechtsstaatlichkeit gegen Lithium getauscht
"Wie Sie wissen ist Serbien nicht nur ein strategischer Partner Russlands, sondern auch ein Alliierter Russlands", so Vize-Premier Aleksandar Vulin gegenüber Präsident Wladimir Putin im September in Wladiwostok. Der Vize ist Vucics engster Vertrauter und von den USA wegen seiner Moskau-Nähe sanktioniert. Prompt beklagte Vulin sich in einem Interview mit Russia Today am Rande des BRICS-Gipfels auch über EU und NATO-Vertreter. Sie würden die serbische Regierung immer wieder drängen, die EU-Sanktionen gegen Moskau mitzutragen. Doch Vulin versprach dem russischen Publikum, Serbien werde solch einen "großen Verrat" niemals begehen: "Ich bin stolz auf meine Beziehungen zu Russland und werde bis zum letzten Lebenstag dafür kämpfen, dass sie enger und enger werden."
Seit Kanzler Olaf Scholz im Juli zwischen Brüssel und Belgrad einen milliardenschweren Lithium-Deal in die Wege leitete, brodelt es zunehmend auf dem Westbalkan. Ein ehemaliger deutscher Diplomat und Balkankenner, der ungenannt bleiben möchte, sagte hierzu, dass die EU den Balkan nur noch als "Herkunftsregion für Arbeitskräfte" für den Pflegebereich und "für Ressourcen wie Lithium" wahrnehme. Hierbei seien "Autokraten wie Vucic" hilfreich, denn diese könnten innenpolitisch umstrittene Projekte wie den Lithium-Deal am besten durchsetzen.
Der Balkan-Experte der Universität Graz, Professor Florian Bieber, kommentiert das auf seinem X-Kanal so: "Heute haben die EU und Deutschland Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine EU-Beitrittsperspektive für den Balkan gegen Lithium getauscht. Es gibt keine unabhängigen Institutionen oder Medien und keinen Platz für eine kritische Zivilgesellschaft in Serbien."