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Politik

Erdbeben in Kroatien: "Raus aus dem Haus!"

Matthias Grimm
30. Dezember 2020

Das schlimmste Erdbeben in dieser Woche hatte die Stärke 6,4. Am schwersten betroffen ist die Stadt Petrinja, wo DW-Mitarbeiter Matthias Grimm gerade zu Besuch war.

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Kroatien l Nach dem Erdbeben in Petrinja - zerstörte Häuser
Ein Haus im mittelkroatischen Petrinja, das vom Erdbeben am 29.12.2020 zerstört wurdeBild: Luka Stanzl/PIXSELL/picture-alliance

Als ich am Montagnachmittag in Petrinja ankam, hatte es dort bereits zwei stärkere Erdstöße gegeben. Gemessen wurde eine Stärke von 5,2, was die Richterskala als "mittelstark" bezeichnet. Es waren nur leichte Schäden entstanden: ein paar zerbrochene Gläser, umgefallene Vasen und ein kleiner Schock bei den Betroffenen.

Petrinja ist ein kleines, ruhiges Städtchen. Ich kenne den 25.000-Einwohner-Ort in der Mitte Kroatiens gut, denn ich habe dort Verwandte: meine Cousine und mein Cousin sind in Petrinja geboren und aufgewachsen, ich habe sie seit meiner Kindheit oft besucht. Ich mag die Stadt und ihre Umgebung gerne, auch wenn viele zerschossene Fassaden und nicht geräumte Minenfelder noch immer an den Krieg 1991-95 erinnern.

Infografik Karte Erdbeben in Kroatien Petrinja EN

Am Dienstag gegen Mittag kochte meine Tante gerade Kaffee, meine Cousine schlief noch und mein Cousin putzte sich die Zähne, als wie aus dem Nichts die Erde, das Haus und die Möbel und Wände darin mit einer Intensität zu schwanken und vibrieren begannen, die man sich nicht vorstellen kann, wenn man das nicht am eigenen Leib erfahren hat.

Mein Cousin kam mit der Zahnbürste im Mund aus dem Bad gestürmt und schrie nach seiner Schwester, die nun ebenfalls aus ihrem Zimmer gerannt kam, voller Panik und den Tränen nahe. Wir klammerten uns alle aneinander, da das gesamte Haus von links nach rechts schwankte. Und das mit einer Kraft, die ich bis gestern nicht im Traum für möglich gehalten hätte.

Flucht mit der Zahnbürste im Mund

Alle Informationen zum Verhalten im Falle eines Erdbebens - sich neben tragende Wände stellen, unter einen massiven Tisch legen, sich von Schränken und Treppenhäusern fernhalten... - waren wie weggefegt. Unser einziger Gedanke war: raus aus dem Haus, denn wir hatten das Gefühl, das Gebäude würde jeden Moment über uns zusammenstürzen.

Kroatien l Nach dem Erdbeben - Frau sitz in den Ruinen ihres Hauses
Diese Frau sitzt mit geretteten Habseligkeiten neben den Trümmern ihres vom Erdbeben zerstörten HausesBild: Robert Anic/PIXSELL/picture-alliance

Vorher mussten wir noch den kranken Opa meines Cousins aus seinem Zimmer ziehen, während um uns herum die Lampen von den Decken und die Regale von den Wänden fielen. Panisch verließen wir das Haus, barfuß, im Schlafanzug und T-Shirt, mein Cousin hatte seine Zahnbürste noch immer im Mund.

Der Schornstein war vom Dach gefallen

Wie lange wir während des Bebens im Haus waren, kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen; das kann keiner von uns. Laut Berichten hat der erste Erdstoß 20-30 Sekunden gedauert. Draußen angekommen sahen wir die Schäden am Haus sofort: Der Schornstein war vom Dach gefallen, er hat ein großes Loch im Dach hinterlassen und auf seinem Weg nach unten viele Ziegel mit sich gerissen.

Kroatien l Nach dem Erdbeben in Petrinja - zerstörte Häuser
Von Erdbeben zerstörte Häuser im Zentrum von Petrinja am 30.12.2020 Bild: Luka Stanzl/PIXSELL/picture-alliance

Dann bebte die Erde erneut. Schwächer zwar als zuvor, aber dennoch merklich hob sich der Boden unter unseren Füßen, begleitet von einem fernen Donnergrollen, das tief aus dem Inneren der Erde zu kommen schien. Auf dieses zweite Beben folgten über den Tag verteilt ca. 20 weitere, deutlich spürbare Erschütterungen.

Eine nicht endende Kolonne von Notfallfahrzeugen

Kurze Zeit nach dem ersten Beben hörten wie Sirenen. Da meine Tante direkt an der Verbindungsstraße zwischen Petrinja und Sisak, der nächsten größeren Stadt, wohnt, muss der gesamte Verkehr zwischen den beiden Orten an ihrem Haus vorbei fahren. Anfangs sahen wir nur ein paar vereinzelte Rettungswagen. Dann wurden es immer mehr, hinzu kamen Feuerwehrautos, diverse LKW und sogar Bagger. Den ganzen Tag fuhren nicht endende Kolonnen von Notfallfahrzeugen mit Blaulicht und Sirenen am Haus vorbei.

Kroatien l Nach dem Erdbeben in Petrinja - zerstörte Häuser
Kroatisches Militär hilft am 30.12.2020 mit schwerem Gerät bei den Aufräumarbeiten in PetrinjaBild: Luka Stanzl/PIXSELL/picture-alliance

Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, wie viele Menschen in der Stadt und Umgebung verletzt oder tot waren. Erst später gingen mein Cousin, meine Cousine und ich durch den Ort, um zu schauen, ob jemand Hilfe benötigt. Entlang der Straße saßen Menschen, so wie wir zuvor auch, vor ihren teils zerstörten Häusern, den Schock noch in den Augen - aber offensichtlich unverletzt.

Halb eingestürzte Wände, umgefallene Möbel

Wir besuchten einen 92-jährigen Herren, um den sich mein Cousin seit Beginn der Corona-Pandemie kümmert. Das Dach seines Hauses war fast völlig zerstört, er selbst aber war unverletzt geblieben und wollte unter keinen Umständen sein Heim verlassen. Er entfachte ein Feuer im Ofen - und der Rauch zog durch ein Loch ab, das dort klaffte, wo bis vor kurzem noch Ziegel gewesen waren.

Kroatien Erdbeben in Petrinja
Ein Helfer vor einem vom Erdbeben zerstörten Haus in Petrinja am 29.12.2020Bild: Antonio Bronic/REUTERS

Wir hatten mittlerweile beschlossen, zu meiner Großmutter ins sichere Bjelovar zu fahren, unter normalen Umständen dauert das mit dem Auto etwa 1,5 Stunden. Vorher musste ich noch einmal ins Haus meiner Tante, um die Jacke mit meinen Ausweisdokumenten im Chaos zwischen halb eingestürzten Wänden und umgefallenen Möbeln zu suchen.

Lieber im eigenen Haus sterben als fliehen

Während ich im Haus war, spürte ich wieder ein Beben. Sehr leicht zwar, aber die Tatsache, dass das Gebäude schon wieder vibrierte, reichte mir, um so schnell wie möglich hinaus zu laufen. Dort war inzwischen auch die Großmutter meines Cousins eingetroffen, die zum Zeitpunkt des Bebens bei der Arbeit in einem Altenheim gewesen war. Dort musste alle Bewohner evakuiert werden.

Kroatien Erdbeben in Sisak
Wegen des Erdbebens: Evakuierung des Krankenhauses von Sisak am 29.12.2020Bild: Antonio Bronic/REUTERS

Trotz unserer Bitten haben sich die Großeltern meiner Verwandten geweigert, mit uns zu meiner Großmutter zu fahren. Sie sagten, sie wollten lieber im eigenen Haus sterben, als zu fliehen. Die Großmutter meines Cousins fügte hinzu, sie habe im Krieg schon einmal ihr Haus verloren, das würde ihr nicht noch einmal passieren. Der Plan der alten Leute war, im Keller auszuharren. Sollte die Erde wieder beben, würden sie sich ins Auto setzen, versprachen sie uns. Egal, was wir versuchten: Sie ließen sich nicht umstimmen.

Autos unter Schutt

Nach einem tränenreichen Abschied reihten wir uns mit unserem Auto in die Kolonne der stadtauswärts Flüchtenden ein; auf der anderen Straßenseite kamen uns weitere Wagen mit Blaulicht und Baufahrzeuge entgegen.

Kroatien Erdbeben in Sisak
Ein Auto und ein Parkomat, beide vom Erdbeben zerstört, am 29.12.2020 in Petrinja Bild: Slaven B. Babic/REUTERS

Rechts und links der Hauptstraße sahen wir zerstörte Dächer. Auf den Bürgersteigen lagen Trümmer, daneben waren unter Schutt begrabene Autos zu erkennen. An den Tankstellen hatten sich Staus gebildet, da so viele Familien zeitgleich aus der Region fliehen und zuvor noch einmal tanken und Wasser kaufen wollten.

Die Angst bleibt

Als wir nach mehreren Stunden endlich völlig erschöpft in Bjelovar angekommen waren und unsere Erlebnisse berichtet hatten, gingen wir schlafen. Wir waren froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Doch Mittwochmorgen um halb 7 bebte die Erde erneut. Wir waren sofort wach, sprangen aus den Betten - da hatte das Beben schon wieder aufgehört. Stärke 4,4, das Epizentrum wieder bei Petrinja, hieß es später. Die Erde wackelte noch einige Male.

Meine Tante sagt, sie wisse nicht, wann und wie sie und ihre Familie nach Hause zurück gehen könnten - und auch nicht, ob sie sich in ihrem Haus jemals wieder sicher fühlen würden. Experten prognostizieren weitere Beben - wie stark, wie oft und bis wann, das weiß niemand.

Diese Ungewissheit und die damit verbundene Angst und Ratlosigkeit wird die Menschen in Mittelkroatien noch lange begleiten - und das ausgerechnet in einer Gegend, wo viele Arme leben, die nun das Wenige, das sie noch hatten, endgültig verloren haben; und wo kaum jemand eine Versicherung hat, die Erdbebenschäden abdeckt.

Jetzt fliege ich nach Hause nach Köln, in die Sicherheit. Es fühlt sich seltsam an, meine Familie in Kroatien sich selbst zu überlassen. An die vielen Urlaube bei meinen Verwandten in Petrinja habe ich viele schöne Erinnerungen. Der denkwürdigste aller Aufenthalte jedoch war definitiv der der vergangenen zwei Tage.

Matthias Grimm Mitarbeiter DW-Akademie