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Friedenspreisträger Liao Yiwu

Jochen Kürten21. Juni 2012

Der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels hat seinem Leben wichtige Bücher abgerungen. Derzeit lebt Liao Yiwu in deutschem Exil. Ein Gespräch mit seinem Lektor vom S. Fischer Verlag, Peter Sillem.

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Der chinesische Dissident Liao Yiwu in der Ludwig-Maximilians-Universität in München (Oberbayern) beim Pressegespräch zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises. (Foto: Frank Leonhardt dpa/lby)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Peter Sillem, Sie sind der deutsche Lektor von Liao Yiwu. Wie beurteilen Sie die Entscheidung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, ihn mit dem diesjährigen Friedenspreis auszuzeichnen?

Peter Sillem: Das ist eine unglaubliche Auszeichnung und es freut mich wahnsinnig für Liao Yiwu, der ein großartiger Autor ist. Er hat in seinen Büchern ein Lebenswerk aufgeschrieben, das erlebtes und gelittenes Leben ist. Wir haben das Glück, dass wir ihm eine Stimme außerhalb des Chinesischen geben konnten, seine Stimme und die Stimmen, die er porträtiert, hörbar zu machen. Das erfüllt uns auch ein kleines bisschen mit Stolz.

Ein Lektor arbeitet ja in der Regel sehr eng mit seinen Autoren zusammen. Mit Liao Yiwu ist das ja in der Vergangenheit nicht so einfach gewesen…

Wir haben über Kontakt- und Vertrauensleute kommuniziert. Liao Yiwu spricht keine westliche Sprache (inzwischen kann er ein bisschen Deutsch, seit er hier lebt). Aber über diese Kontaktleute, von denn wir wussten, dass wir ihnen vertrauen konnten und denen er vertraut hat, lief die Kommunikation immer reibungslos. Auch als er noch unter großer Bedrohung in China war

Das heißt, Sie sind über geheime Wege an die Texte gekommen und haben mit Übersetzungen gearbeitet?

Es gab zum Teil schon Übersetzungen aus dem Englischen. Aber wir haben auch mit den Originaltexten gearbeitet - mit einem fabelhaften Übersetzter: Hans Peter Hoffmann, der wirklich Liao Yiwus deutsche Stimme geworden ist, was seine Bücher angeht. Das ging sehr gut. Es gibt ungefähr 300 Gespräche und Porträts und dann gibt es eben diese große Autobiografie (in den beim Fischer-Verlag erschienenen Büchern "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten", 2009, und "Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen", 2011, (Anm. der Red.)) Liao Yiwu ist ein wirklich hoch engagierter Arbeiter und Autor. Er schreibt fieberhaft. Die Kommunikation mit ihm ist nie ein Problem gewesen.

Was sind aus ihrer Sicht seine großen schriftstellerischen Leistungen?

Peter Sillem. Foto: Jörg Steinmetz
Peter SillemBild: Jörg Steinmetz

Er hat eine ganz eigene Sprache und Stimme. Er schafft es, denen, die keine Stimme haben, eine zu geben, also all den Vergessenen, den Menschen, die - wie er das nennt - am Bodensatz der chinesischen Gesellschaft leben. Er ist in der Lage Zeugnis abzulegen. Er hat ganz eigene Bilder. Eine besonders körperliche Sprache, die, aus meiner Sicht unvergleichlich ist. Eine ganz individuelle Sprache, die zugleich universell ist, die überall auf der Welt verstanden wird. Man muss nichts über China wissen, um seine Bücher zu lesen, um miterleben zu können, was er auch als Mensch erleben musste. Das ist auch das, was - aus meiner Sicht - Weltliteratur leistet.

Hat er heute noch Kontakt zu China, zu anderen Autoren und Schriftstellern?

Er hat durch das Internet und andere mögliche Kommunikationsformen Kontakt. Schwierig wird es nur, wenn Autoren und Intellektuelle, wie es leider immer häufiger der Fall ist, schlicht und ergreifend verschwinden und für niemanden mehr erreichbar sind. Denken Sie an Liu Xiaobo, den Friedensnobelpreisträger, denken Sie an seine Frau, denken Sie an Li Bifeng. Diese Leute sind einfach nicht mehr erreichbar. Niemand weiß, wo sie sind. Seit er in Deutschland ist, ist der Kontakt zu Liao Yiwu einfacher. Wie fühlt er sich heute, wo er doch von seinen kulturellen und familiären Wurzeln abgeschnitten ist?

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten Fischer Verlag

Es ist natürlich nur die zweite, oder drittbeste Möglichkeit für einen Autor, der für seine Sprache lebt, der aus seiner Kultur lebt, aus seiner Kultur schöpft. Er würde nichts lieber tun, als in China zu arbeiten, wo er seine Stoffe findet. Gleichzeitig kann man sagen, er fühlt sich ausgesprochen wohl in Deutschland, das ist wirklich seine Wahlheimat. Das war ihm von vornherein klar. Ich glaube, das hat mit der historischen Situation in Deutschland zu tun, mit den Dingen, die seit 1989 passiert sind. Es hat sich in kürzester Zeit ein ganzes Freundesnetz gebildet, das ihn auch hält, ihn auffängt. Er ist ein Mensch, der für Freundschaften sehr begabt ist. Er fristet hier zum Glück kein einsames Exilanten-Dasein.

Ein neues Buch ist bereits angekündigt bei Fischer. Um was geht es?

Das Buch wird den Titel "Die Kugel und das Opium. Leben und Sterben am Platz des himmlischen Friedens" tragen (es erscheint Ende Oktober 2012, (Anm. die Red.)) und versammelt Stimmen von Opfern des Massakers vom 4. Juni 1989. Das ist auch eine Art Tabubruch. Liao Yiwu ist vielen Menschen während der Haft begegnet, auch außerhalb der Haft. Das Buch wird eine Liste aller bekannter Opfer des Massakers enthalten. Es gibt ja auch viele Unbekannte, deren Namen und Verbleib nicht bekannt sind. Liao Yiwu porträtiert viele andere Opfer, aber auch sich selbst. Es ist seine persönliche Sichtweise.

Hatten sie schon Gelegenheit mit ihm zu sprechen? Wie war seine Reaktion auf den Friedenspreis?

Ich weiß, dass er ihm sehr, sehr viel bedeutet. Es ist wirklich eine große Anerkennung. Die Tatsache, dass er hier in Deutschland, aber auch in sehr vielen anderen Ländern so viele Leser hat, dass er wahrgenommen wird, ist eine große Befriedigung für ihn. Auch dass die Menschen nun wahrgenommen werden, denen er eine Stimme gibt, die sonst keine haben, ist ihm wichtig. Ein Schriftsteller lebt ja von der Öffentlichkeit. Der Preis ist ein großes Glück für ihn.