Die Mission des Hubert Ilsanker
10. Januar 2012"I bin der Hubsi", sagt Hubert Ilsanker zur Begrüßung und stellt gleich klar, dass er mit dem Besucher per Du sein wird. Hubsi ist das, was man in Bayern einen Gaudiburschen nennt. Zumindest zeigt er diese sonnige Seite an Tagen, an denen sich der Himmel in blau zeigt. Dann nämlich kommen oft Touristen auf einer der Almen vorbei, auf denen der Brennmeister sein Tagwerk verrichtet.
Er grinst, hat flotte Sprüche auf Lager, mimt den Alleinunterhalter. "Aber wenn es regnet, bin ich der einsame Bergbrenner", gibt er zu, nicht darauf hoffend, Mitleid zu ernten. Hubert Ilsanker hat sich seine Arbeit freiwillig gesucht, eine Lebensaufgabe, gibt er zu. Als Jugendlicher habe er sich Taschengeld beim Wurzelgraben verdient, und damals großspurig verkündet: "Das mache ich später mal hauptberuflich." Keiner nahm ihn ernst. Dann absolvierte der Berchtesgadener eine Zimmermannslehre und landete tatsächlich schließlich bei Grassl. "Ein einmaliger Glücksfall", lautet das einhellige Urteil in der Firmenzentrale unten im Tal. Hubsi sieht es umgekehrt.
In der Ruhe liegt die Qualität
"Als Zimmermann musst Du immer schnell arbeiten. Hier funkioniert das Prinzip genau anders herum. Je langsamer das Destillat rinnt, desto besser wird das Endprodukt", schmunzelt der erfahrene Enzianbrenner, der immer neun Stunden und mehr pro Tag arbeitet, weil die jeweiligen Brennprozesse so lange dauern. Lang ist bisweilen auch sein Arbeitsweg. Eine halbe Stunde mit dem Schiff über den Königsee, anschließend folgen drei Stunden Fußmarsch auf einem Trampelpfad, ehe Hubert Ilsanker die Brennhütte am Funtensee erreicht hat. Sein Gepäck und die Verpflegung für drei Monate werden per Hubschrauber angeliefert. Handy oder Fernseher gehören nicht zur Ausrüstung, Musikinstrumente sind dabei, zum Zeitvertreib fernab jeglicher Zivilisation und warme Kleidung, denn es kann empfindlich kalt werden. Hubert Ilsanker verbringt alle fünf bis sieben Jahre die Sommermonate auf über 1600 Meter Höhe, selbst wenn hin und wieder Schnee fällt.
Die Kraft aus dem Saft der Wurzel
Hier gräbt Ilsanker nach den Enzianwurzeln, obwohl die Pflanze unter Naturschutz steht. Das Recht dazu erwarb die Familie Grassl bereits 1602. Erlaubt ist seither auch der Holzeinschlag für die Destillation und das Brennen des Enzians direkt vor Ort. Diese jahrhundertealte Tradition der Enzianbrennerei gehört zum Kulturgut des Berchtesgadener Landes und hat auch Bestand nachdem das Gebiet zum Nationalpark erklärt wurde.
Beim Graben wird Ilsanker hin und wieder von seinen "Spezies", Freunden unterstützt, die sich für eine Woche Urlaub genommen haben. Zehn bis 15 Kilo holen Hubsi und Michi Kunz pro Tag aus der Tiefe. Die Wurzeln werden wieder mit Erde abgedeckt. Fünf bis sieben Jahre hat das Gewächs dann Ruhe, um nachzuwachsen. Hubsi und seine Helfer suchen in der Zeit an anderen Orten nach den langen Ginsengwurzel-ähnlichen Teilen an den verblühten Pflanzen, die sich nur bedingt kultivieren lassen.
Enzian ist nicht nur blau
"Den gelben Enzian kann man kultivieren", erklärt Martin Beierl, Vertriebsleiter der Firma Grassl. "Der pannonische, also der violette und der punktierte Enzian wachsen nur oberhalb von 1000 Metern in den Bergen." Zum Massenprodukt taugt der Enzian also nicht. Und auch der blaublütige Enzian ist nicht zum Schnapsbrennen geeignet, obwohl diese Sorte am bekanntesten ist, weil sie als Symbol der Berge und der Treue gilt. Die Wurzeln werden in Kraxen oder großen Säcken zur Hütte gebracht. Anschließend werden sie kleingehackt und eingemaischt. Dazu werden Quellwasser und Hefe hinzu gefügt, um den Gärvorgang in Gang zu setzen. Der Fruchtzucker, der in der Wurzel vorhanden ist, verwandelt sich bei 30 Grad Raumtemperatur in Alkohol. Der Bitterstoff Gentianose gibt dem Schnaps seinen würzig-erdigen Geschmack. Für einen Liter Alkohol braucht Hubert Ilsanker 15 Kilo Enzianwurzeln.
Der Gärvorgang dauert zwei bis drei Wochen. Danach wird das Gemisch erhitzt oder gebrannt. Dadurch konzentriert sich der Alkohol, und die typischen Aromen des Enzians werden in das Destillat überführt. Anschließend wird noch ein zweites Mal gebrannt, ehe das Destillat per Hubschrauber oder Geländewagen ins Tal gebracht wird. Dort werden dem edlen Brand noch Kräuter zugesetzt oder der pure Enzian wird bis zur Abfüllung in Flaschen und dem Verkauf eingelagert. Mindestens drei, die Spitzenspirituose aus Enzianwurzeln vom Funtensee wird sogar sieben Jahre in Eschenfässern in einem unterirdischen Stollen gekühlt. Der fertige Schnaps enthält 40 Prozent Alkohol und eine Menge gesundheitsfördernder Inhaltsstoffe.
Ab und zu bekommt Hubsi Besuch von den Zollbeamten, die einen Kontrollbrand machen. Anhand der Rohware schätzen die Zöllner, wie viel Schnaps am Ende herauskommt. Die Firma Grassl muss auf diese Menge Branntweinsteuer zahlen, bei einem Liter 40-prozentigen Enzian kassiert der Staat 5,21 Euro.
Keine Massenware zum Runterkippen
Die Steuern sind stetig gestiegen, aber das Rezept hat sich seit Jahrhunderten nicht verändert. Kenner genießen den edlen Tropfen nicht hastig, sondern in kleinen Schlucken als Digestif nach dem Essen. Auch die festen Bestandteile, die Schlempe, wird noch genutzt. Pharmaunternehmen verarbeiten den darin enthaltenen stärksten natürlichen Bitterstoff, Amaro-Gentin, in Magenmitteln. Die Enzianwurzel, Radix Gentianae, wird auch in Kopfschmerztabletten verarbeitet. Kühen behagt das Gewächs übrigens gar nicht. Der Bitterstoff ist so stark, dass das Weidevieh einen großen Bogen um Pflanze und Wurzel macht.
Autorin: Karin Jäger
Redaktion: Arne Lichtenberg