Die Alpen als Strompuffer Europas
17. März 2022Noch in diesem Sommer soll nahe dem Genfer See in den Walliser Alpen das Pumpspeicherkraftwerk (PSW) Nant de Drance ans Netz gehen. Mit einer Leistung von 900 Megawatt (MW) wird es das zweitgrößte der Schweiz sein und die Leistung eines ausgewachsenen Atom- oder Kohlekraftwerksblocks haben. Das obere Reservoir liegt 2200 Meter hoch und fasst genug Wasser für 20 Stunden Volllastbetrieb. Das größte PSW der Eidgenossenschaft, Linth-Limmern, liegt im zentraler gelegenen Kanton Glarus (Artikelbild). Es ging 2016 ans Netz und kann bis zu 33 Stunden lang 1000 MW leisten.
Das ist eine Menge erneuerbarer Energie. Was die beiden Kraftwerke aber besonders wertvoll für die Energiewende macht: Sie können in weniger als zehn Minuten von Produktions- auf Speicherbetrieb umschalten. Dann pumpen die Turbinen mit der gleichen Leistung Wasser aus dem unteren Reservoir die Schleusen wieder hinauf und laden ihr Erzeugungspotenzial wieder auf.
Ausbau der Wasserkraft ins Stocken geraten
Angesichts des wachsenden Speicherbedarfs dürfte es nicht überraschen, dass Energieunternehmen Pumpspeicherkraftwerke bauen - auch wenn die Investitionssummen enorm sind. Beide PSW haben etwa 2,1 Milliarden Euro gekostet. Gemessen an Leistung und Kapazität kosten Batteriespeicher aber ein Vielfaches. Zumal PSW auf eine Laufzeit von 80 Jahren und theoretisch unendlich viele Lade- und Entladezyklen ausgelegt sind, während Lithium-Ionen-Großspeicher nach zehn bis 20 Jahren bis zu einem Drittel ihrer Kapazität verloren und damit ausgedient haben.
Tatsächlich aber stockt der Bau für Wasserspeicherkraftwerke - ob mit oder ohne Pumpwerk - seit Jahren. Und das nicht nur in der Schweiz. In Deutschland ist das Potenzial für wirtschaftliche Anlagen mangels hoher Berge ohnehin überschaubar. Mit Blick auf die Ökologie halten es Umweltverbände auch für weitgehend ausgeschöpft. Letzteres gilt auch für Österreich.
Der Strommix des Landes ist dem der Schweiz recht ähnlich: Zwei Drittel Wasserkraft, gut 15 Prozent Erneuerbare, den Anteil der Kernkraft übernehmen hier fossile Energieträger. An Wasserspeicherkraftwerken werden hier vor allem noch kleinere Erweiterungen umgesetzt. Denn klar ist: Das Anlegen von Stauseen bedeutet immer einen erheblichen Eingriff in die Natur.
Auch in der Schweiz werden deswegen heftige Debatten ausgetragen. "Selbst bei Projekten, die nur eine Vergrößerung bestehender Stauseen vorsehen, dauern Genehmigungsverfahren häufig 15 Jahre und mehr", sagt Robert Boes, Wasserbauprofessor an der ETH Zürich.
Schweiz drückt auf die Tube
Im letzten Herbst aber einigten sich eidgenössische Umweltverbände, Kraftwerksbetreiber und weitere Stakeholder am Runden Tisch Wasserkraft auf 15 konkrete Projekte, mit denen die Kapazität der saisonalen Speicherkraftwerke bis 2040 um zwei auf dann elf Terawattstunden (TWh) erhöht werden sollen. Dies entspricht dem durchschnittlichen Stromverbrauch der Schweiz von zwei Monaten.
Im Februar hat die Regierung eine flankierende Gesetzesinitiative ins Parlament eingebracht, um die dafür notwendigen Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. "Wenn das Gesetz zügig in Kraft tritt, wäre das ein wichtiger Schritt, um den Ausbau voranzubringen", sagt Boes, der an der Analyse zur Auswahl der 15 Projekte mitgearbeitet hat.
Kraftwerksbetreiber fordern Stromabkommen mit EU
Der Schweizerische Wasserwirtschaftsverband (SWV) dämpft jedoch die Euphorie. Der SWV erwarte zwar, dass praktikable Lösungen erarbeitet würden, heißt es auf DW-Anfrage: "Aktuell ist die Wirtschaftlichkeit aber nicht ausreichend gegeben, um die möglichen Projekte weiterzuentwickeln."
Dies liege unter anderem daran, dass ein Abkommen zwischen der Schweiz und der EU fehlt. Vor mehr als zehn Jahren begannen die Verhandlungen, nun liegen sie auf Eis. Schweizer Stromerzeuger können deshalb nur eingeschränkt an den attraktiven Strommärkten der EU teilnehmen. Weder von den Spitzenpreisen, die bei Strommangel an den Spot-Märkten anfallen, noch von den Vergütungen, die gezahlt werden, wenn Akteure bei einem Überangebot Strom aus dem Netz nehmen, profitieren sie in dem Maße wie EU-Erzeuger.
Doch auch in Deutschland beklagen Betreiber, dass Pumpspeicherkraftwerke kaum profitabel zu betreiben sind. Das liegt paradoxerweise auch an den Erneuerbaren selbst. Einerseits können sie zwar für nie gesehen Preisextreme sorgen: Im Sommer 2019 kostete eine Megawattstunde kurzzeitig 37.856 Euro am Spotmarkt, wo sie damals für gewöhnlich für zweistellige Eurobeträge gehandelt wurden. Derzeit kostet sind es eher mittlere dreistellige Beträge.
Andererseits entfällt zunehmend der Bedarf, in den Mittagsstunden Lastspitzen durch Wasserkraft abzudecken - zum Beispiel, weil die Photovoltaik zu Grenzkosten nahe Null einspeist. Dennoch: "Ab einem gewissen Anteil Erneuerbarer Energien wird das wieder kippen und Pumpspeicherkraftwerke werden profitabel", glaubt Wasserbauexperte Boes. "Aber es ist schwer zu sagen, wann es so wie ist."
Ohne Wasserkraft läuft in der Schweiz nichts
Dass in der Schweiz die Wasserkraft - und insbesondere die Speicher- und Pumpspeicherwerke - überhaupt noch ausgebaut wird, ist eine energiestrategische Frage: Das Land erzeugt bis zu 60 Prozent seines Stroms aus Wasserkraft. Dank seiner Wasserkraftwerke erzeugt die Eidgenossenschaft im Jahresdurchschnitt sogar deutlich mehr Strom, als sie verbraucht. 2020 betrug der Export-Überschuss 5,6 Terawattstunden - das sind fast zehn Prozent der inländischen Stromproduktion.
Überschüsse fallen aber nur zwischen März und Oktober an, also wenn genug Schmelzwasser die Flüsse und Regen die Hänge herabläuft. "Wenn im Herbst die Niederschläge wieder als Schnee auf den Alpen liegen bleiben, fällt die Produktion der Laufwasserkraftwerke an den Flüssen rapide, und auch die Speicherkraftwerke bedienen sich aus der Reserve ihrer Stauseen", erklärt Boes.
Bisher füllen Atomkraftwerke die Pumpspeicherseen
Im Winter laufen deshalb auch die vier Kernreaktoren der Schweiz auf Hochtouren, erzeugen aber nicht genug, um den Bedarf zu decken. Und hätten sie keine Pumpspeicherkraftwerke, die sie über Nacht mit ihrem Strom auffüllen könnten, müsste die Schweiz tagsüber noch viel mehr Strom importieren.
Selbst mit dem nun angestrebten Speicherausbau dürfte die Schweiz im Winter nicht ohne Importe auskommen. Zumal auch die Alpenrepublik aus der Kernkraft aussteigen will. Eigentlich sollten die bestehenden Meiler im Laufe dieses Jahrzehnts vom Netz gehen, nun aber doch so lange laufen, wie sie als sicher eingestuft werden.
Dass die Schweiz ihre Wasserspeicher selbst benötigt, bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht auch der EU zugutekommen könnten. Grenzüberschreitende Stromflüsse ohne fiskalische oder regulatorische Hürden senken die Verbraucherpreise auf beiden Seiten der Grenze, weil Preisextreme nivelliert werden, je diversifizierter das Angebot ist.
Batterien können Wasserspeicher nur bedingt ersetzen
Unbesehen davon müssen auch Deutschland und andere EU-Länder überlegen, wie sie Wind- und Sonnenenergie jederzeit verfügbar machen wollen. Batteriespeicher mit Lithium-Ionen-Technik sind bisher keine adäquate Alternative. Sie sind gut geeignet, um kurzfristig Strom zu liefern - beispielsweise, wenn ein Wolkenband über einen Solarpark zieht, oder um Lastveränderungen im Stromnetz zu managen - etwa, wenn das Flutlicht eines Stadions ein- oder ausgeschaltet wird.
Tagelange Phasen ohne Sonneneinstrahlung und Wind können selbst die größten Batteriespeicher nicht überbrücken. "Bestehende Stauseen zu vergrößern und in Zukunft weitere bestehende Speicherkraftwerke zu Pumpspeicherwerken auszubauen, wie zuletzt in Linth-Limmern und Nant de Drance, könnte ein Teil der Lösung sein", meint Boes.