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Elif Shafak: "Erdogans Politik spaltet die Türkei"

Gero Schließ so
12. September 2017

Die türkische Autorin Elif Shafak wirft Präsident Erdogan vor, die Türkei in ein autoritäres Land zu verwandeln. Gegenüber der DW fordert sie, der Westen sollte die türkische Zivilgesellschaft stärker unterstützen.

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Elif Shafak
Bild: picture-alliance/dpa/K.Lütscher

DW: Sie haben die Eröffnungsrede beim Internationalen Literaturfestival Berlin gehalten. Welche Botschaft wollten Sie dem Publikum mitgeben?

Ich denke, wir befinden uns in aufregenden, aber auch sehr besorgniserregenden Zeiten. Es sind bewegte Zeiten. Was können Schriftsteller oder Künstler tun? Meiner Meinung nach ist die Zeit gekommen, dass sie mutiger für universelle Werte streiten müssen - weil diese Werte nicht mehr sicher sind. Wir sprechen von Werten wie Demokratie, Pluralismus, Rechte von Frauen und LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, Anm. d. Red.), Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte gilt es mit größerer Leidenschaft zu verteidigen - lauter und selbstbewusster, als wir es bisher getan haben.

Der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel wird vorgeworfen, nicht genug gegen die Türkei zu unternehmen. Wie sehen Sie das?

Für mich sendet Angela Merkel allein durch die Tatsache, dass sie eine Frau ist, eine wichtige Botschaft an alle Mädchen und Frauen rund um den Globus. In der Politik gibt es einfach viel zu wenige weibliche Vorbilder, das spielt eine Rolle. Darauf möchte ich gerne aufmerksam machen. Bei den Debatten über die Türkei unterscheide ich zwischen der Regierung und dem Volk. Es ist klar, dass die türkische Regierung immer autoritärer geworden ist in den vergangenen Jahren. Auch wenn sie durch Wahlen an die Macht gekommen ist, hat sie die Demokratie ruiniert, in dem sie Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit außer Kraft setzt.

Der türkische Präsident Erdogan (Foto: Reuters/O. Orsal)
Europa sollte die Türkei nicht isolieren, fordert SafakBild: Reuters/O. Orsal

Gleichzeitig weiß ich, dass es eine Zivilgesellschaft in der Türkei gibt. Es gibt viele weltoffene und progressive Menschen: Frauen, Jugendliche, Studenten, Minderheiten, Sozialdemokraten. Diese Menschen sind ihrer Regierung voraus. Und wir hören ihre Stimmen nicht in den internationalen Medien.

Das Dilemma, in dem wir stecken, ist, dass wie auf der einen Seite regierungskritisch sein müssen und auf der anderen Seite das Volk unterstützen wollen. Lasst uns nie das Volk isolieren! Lasst uns nie den Kontakt zur Zivilgesellschaft verlieren! Das ist eine große Herausforderung für viele Politiker.

Welche Schritte wären nötig, um die Zivilgesellschaft zu unterstützen?

Die Türkei ist ein großes und wichtiges Land, kompliziert und vielschichtig. Aktive Bürger und NGOs in Europa - wie Amnesty International oder der Internationale P.E.N. - setzen europäische Staatsführer unter Druck, um über die Menschenrechtssituation, den Verfall der Demokratie und der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei zu sprechen.

Während wir hier sitzen, hat sich die Türkei zum größten Kerkermeister für Journalisten entwickelt - sie hat sogar Chinas traurige Rekorde übertroffen. Während wir hier sitzen, verlieren Menschen ihre Jobs, darunter tausende Akademiker - viele von ihnen nur, weil sie eine Friedenspetition unterschrieben haben. Während wir hier sitzen, befinden sich Menschen im Hungerstreik. Das ist eine lange Liste. Die türkischen Demokraten sind demoralisiert. Deshalb müssen wir uns auf die Zivilgesellschaft konzentrieren.

Glauben Sie, dass die Zivilgesellschaften in sogenannten stabilen Demokratien wie etwa der deutschen nicht genug tun? Könnten sie mehr tun und sich stärker engagieren?

Absolut! Ich glaube, wir sollten unsere Stimme stärker erheben. Außerdem ist es sehr wichtig, dass feministische Organisationen in Deutschland feministische Organisationen in der Türkei und anderswo unterstützen. Warum kann es nicht einen intensiveren Dialog zwischen den türkischen und deutschen Zivilgesellschaften geben? Viele Organisationen in der Türkei unterstützen Journalisten, Karikaturisten, Schriftsteller und auch Minderheiten. Diese Menschen brauchen Beistand. Sie müssen wissen, dass sich die Welt um ihre Anliegen kümmert und dass sie nicht alleine dastehen.

Den globalen Dialog über Grenzen hinweg halte ich für enorm wichtig. Das hat für mich eine größere Relevanz als das, was sich zwischen Politikern der Türkei und Deutschland abspielt, denn das Leben von echten Menschen zählt weit mehr.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (Foto: picture-alliance/POP-EYE/B. Kriemann)
Wer zeigt hier wem die kalte Schulter?Bild: picture-alliance/POP-EYE/B. Kriemann

Erdogan trägt als Präsident letztendlich die Verantwortung für den Verfall der Demokratie in der Türkei, Machen Sie ihn auch persönlich dafür verantwortlich?

Ich möchte betonen: Je mehr Zeit Erdogan und seine Partei AKP an der Macht sind, desto autoritärer werden sie. Tausende von Menschen wurden ins Gefängnis geworfen, weil sie den Präsidenten beleidigt haben. Ein kritischer Kommentar auf Facebook, ein kleiner Witz auf Twitter... alles kann dazu führen, in ein türkisches Gefängnis gesperrt zu werden. In einer Demokratie sollte es möglich sein, dass Menschen ihren Präsidenten kritisieren dürfen. Es macht mich traurig, die Türkei so gespalten zu sehen. Wir haben die Kultur des Zusammenhalts verloren. Menschen können für verschiedene Weltsichten einstehen - doch sie können trotzdem gemeinsame demokratische Werte und Respekt voreinander haben.

Das passiert aber nicht. Und die AKP agiert, als ob sie nur die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren müsste. Aber was ist mit der anderen Hälfte? Es ist klar, dass Erdogan der am stärksten spaltende Politiker in der jüngeren türkischen Geschichte ist. Er teilt die Gesellschaft in "uns" und "sie".

Aber trotz Erdogan sollte Europa die Türkei nicht isolieren. Isolationismus spielt immer nur den Isolationisten in die Hände. Viele von ihnen sind Nationalisten oder Islamisten. Es ist keine Lösung, eine Gesellschaft oder ein ganzes Land zu isolieren. Aber ich bin ganz sicher, dass wir unsere Regierung offen kritisieren sollten - und dass Autoritarismus nicht akzeptabel ist.