Shafak eröffnet Berliner Literaturfestival
7. September 2017200 Autoren aus über 40 Ländern werden zum 17. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) erwartet. "Das internationalste aller internationalen Literaturfestivals", wie es sein Leiter Ulrich Schreiber zur Eröffnung beschrieb, hat große Namen zu bieten: Arundhati Roy, Yasmina Reza, Stefan Hertmans, Frank Witzel, Marie N'Diaye sind nur einige davon. Aber es geht primär nicht um Unterhaltung, das ilb versteht sich als politisch engagiertes Festival für Demokratie und die Freiheit des Wortes. Werte, deren Verteidigung in der Türkei aktuell von größter Bedeutung sind.
Was also lag näher, als zur Eröffnung des zehntägigen Literaturfestes Elif Shafak, die meistgelesene türkische Autorin, einzuladen. Ihre 13 Bücher erschienen in 40 Sprachen, einige davon schrieb sie auf Englisch. In der Türkei wird sie von der regierungsnahen Presse deshalb angegriffen. Seit ihrem 2006 erschienenen Roman "Der Bastard von Istanbul", in dem sie die Verfolgung der Armenier durch die Türken während des ersten Weltkriegs als "Völkermord" bezeichnete, gilt sie als staatskritisch. "Herabsetzung des Türkentums" wurde ihr damals vorgeworfen. Sie musste sich, obwohl sie in einem Prozess freigesprochen wurde, zwei Jahre lang von Bodyguards beschützen lassen.
"Team der Deprimierten" wächst
Seit sieben Jahren lebt die türkische Autorin mit ihrer Familie in London. Ihre eigentliche Heimat war trotzdem immer in der Türkei. "Ich betrachte mich als Istanbulerin, ich liebe die Stadt", sagt Elif Shafak (Jg. 1971) über sich. Seit ihrer Kindheit habe sie eine nomadische Existenz geführt: In Straßburg geboren, wurde sie in Ankara von ihrer Großmutter aufgezogen, lebte in Madrid, in Amman (Jordanien), in Köln, und in den USA in Michigan und Arizona und in Boston (Massachusetts). Dazwischen kehrte sie immer wieder nach Istanbul zurück. Doch in der jüngsten Version ihrer Vita führt Elif Shafak Istanbul nicht mehr als Wohnort auf, darauf wies die Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim bei ihrer Vorstellung der Autorin hin.
In ihrem Heimatland wäre die Erdogan-Kritikerin wahrscheinlich gefährdet. Doch sie macht sich nicht nur Sorgen um den Zustand der Türkei. "Ich war es gewöhnt, bei internationalen Konferenzen zu den eher düsteren, deprimiert Vortragenden zu gehören. Und ich glaube, dass es viele türkische Autoren gibt, die ziemlich deprimiert und demoralisiert sind. Aber dann waren da gewöhnlich auch Autoren aus anderen Ländern, aus Ländern wie Pakistan, Ägypten, Venezuela, Nigeria, den Philippinen, die auch deprimiert waren. Wir hörten uns gegenseitig zu, lächelten uns an, aber gefühlsmäßig gab es da immer noch ein Unterschied zwischen denen von uns, die aus wackeligen oder verwundeten Demokratien, und denen, die aus stabilen Demokratien kamen."
Im letzten Jahr habe sich das geändert, immer mehr Autoren im "Team der Deprimierten" kämen aus Europa: aus Ungarn, Polen, selbst aus Österreich, Holland und Frankreich. "Und sogar Schriftsteller aus dem Vereinigten Königreich, wo ich lebe - plötzlich waren da immer mehr von uns, die sich um das Schicksal ihrer Länder und das der Welt Sorgen machten", sagt die Schriftstellerin.
"Wir müssen über Gefühle sprechen!"
Es sei die Aufgabe von Autoren, sich mit den Gefühlen der Menschen auseinanderzusetzen. "Wir leben in einer Zeit, in der Emotionen die Politik leiten und verleiten", sagte sie in ihrer Rede. "Ich mache mir Sorgen, denn die Demagogen haben es besser als viele Liberale, viele Demokraten und Progressive verstanden, auf die Gefühle der Menschen einzugehen." Angst, Ärger, Furcht, Unsicherheit - gerade über diese Gefühle müsse man sprechen, um die Menschen nicht rechten Populisten in die Arme zu treiben.
Elif Shafak erinnerte in ihrer Rede auch an den Optimismus der Jahre nach der Jahrtausendwende. Etwas, was viele politische Denker, Journalisten und Autoren damals als Triumph der freiheitlichen oder neo-liberalen Ordnung empfunden hätten: "Damals glaubten wir, dass wir alle dank der Globalisierung einander tief verbunden sein würden. Wir meinten, dass der Nationalismus sich erledigt habe und Religion dahinwelken würde, dass Nationalstaaten ihre Macht verlieren und von übernationalen Strukturen und Nichtregierungsorganisationen abgelöst werden würden."
Einige dieser Erwartungen hätten sich erfüllt, das Gegenteil paradoxerweise aber ebenso. Knapp zwei Jahrzehnten später befänden sich 2017 viele Teile der Welt in einer wesentlich deprimierteren Stimmung. "Nationalismus und religiöser Fundamentalismus haben ein starkes Comeback erlebt, und ein neues Stammesdenken will uns einreden, dass wir besser leben würden, wenn wir nur von Gleichen umgeben wären."
"Den Glauben an die Demokratie bestärken!"
Um den Vertrauensverlust in die Demokratie vor allem in Ländern wie der Türkei und im Nahen Osten aufzuhalten, sei es unglaublich wichtig, über Demokratie zu sprechen. In diesen Ländern hielten viele Menschen Demokratie für etwas Westliches, das nicht zu den eigenen Traditionen und Wertvorstellungen passe. Man sehne sich nach starker Führerschaft, gestützt von Technokraten und Bürokraten. "Sie sprechen sogar von einer wohlwollenden Diktatur!" Doch so etwas wie einen wohlmeinenden Diktator gebe es nicht. "Undemokratische Länder sind im wesentlichen unglückliche Länder. Und wenn eine Nation unglücklich ist, wird sie früher oder später auch instabil."
"Wir müssen den Glauben der Menschen an die Demokratie erneuern", fordert die Autorin nicht nur in Hinblick auf ihr Heimatland. Sie sei gewohnt, in der Türkei über Demokratie und über die EU zu sprechen, habe aber nie geglaubt, dass sie einmal die EU in Großbritannien verteidigen müsse. Für sie sei die EU mehr als eine auf wirtschaftlichen Interessen begründete Gemeinschaft. "Aus meiner Sicht, die ich aus einem Land komme, das bedauerlicherweise nicht in der EU ist, geht es bei Europa vorrangig um Werte: um Demokratie, Meinungsfreiheit, Frauenrechte, die Rechte von Minderheiten, von Schwulen und Lesben und denen, die keine Stimme haben. Es geht um die Gesetzeshoheit, um Gewaltenteilung. Aber neben all diesen Werten steht für mich die Europäische Gemeinschaft vor allem für das Gedächtnis: Die Erinnerung daran, wohin uns Stammesdenken bringen kann."
Schriftsteller, seid laut und mutig!
"Die Demokratie hat sich als so viel fragiler erwiesen, als wir dachten", bilanziert Shafak. Sie sei wie ein Ökosystem, das man pflegen und ernähren müsse. Die Türkei sei ein trauriges Lehrbeispiel, an dem man sehen könne, wie schnell die Demokratie in einem Land dahin schmelzen könne. An alle Schriftsteller - sich selbst eingeschlossen - richtet sie den Appell, sich für nationenübergreifende Verbindungen, für Solidarität, Mitgefühl und Humanismus und gegen jegliches Stammesdenken einzusetzen: "Sprecht lauter und mutiger über das, was heute in der Welt geschieht!" Die Zeit sei reif, sich der öffentlichen Debatte zu stellen.
In der Türkei und im Nahen Osten habe man in den letzten Jahren das Erstarken von Autoritarismus und Islamismus beobachten können, aber auch das des Sexismus. Das sei kein Zufall. "Länder, die autoritärer werden, werden militaristischer und nationalistischer. Wenn sie nationalistischer werden, werden sie sexistischer. Wenn sie sexistischer werden, werden sie patriarchalischer, frauenfeindlicher und homophobischer."
Türkei darf nicht isoliert werden
160 Journalisten seien in der Türkei inhaftiert. "Die Türkei ist heute das größte Gefängnis für Journalisten und übertrifft selbst China", erinnert Elif Shafak. Tausende von Akademikern hätten ihre Jobs verloren, viele von ihnen, nur weil sie eine Friedens-Petition unterschrieben hatten. Die Situation sei trotzdem nicht hoffnungslos. "In der Türkei gibt es eine erstaunliche Zivilgesellschaft. Die Menschen sind da, und wir müssen uns mit ihnen verbinden." Keinesfalls dürfe man den Kontakt zur Türkei schwächen. "Man sollte Regierungen und Politikern kritisch gegenüberstehen, aber man sollte niemals ein Land isolieren!"
Unter den Zuhörern waren nicht wenige Türken, darunter auch Can Dündar, der im Berliner Exil lebende ehemalige Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet" und der Schauspieler, Übersetzer und Autor Recai Hallaç. Auch von ihnen erhielt Shafaks Rede viel Beifall. "Es war eine sehr ermutigende und sehr beeindruckende Rede", kommentierte Dündar, "eine Rede, die Vorurteile gegenüber der Türkei beiseite räumt. In Europa ist es verbreitet, dass man die Türkei mit Erdogan identifiziert. Elif Shafak vertritt eine andere Türkei."