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Eiszeit auf der Ostsee

Andreas Schmidt war mit der "Tarmo" unterwegs.5. März 2003

Seefahrer auf der Ostsee erleben dieses Jahr einen der kältesten Winter. Weil Estland nur noch einen Eisbrecher hat, brauchen Seeleute, die in dieser Region jetzt im Eis feststecken, vor allem eins: Geduld.

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Eisige Fahrt: Die "Tarmo" in EstlandBild: Andreas Schmidt

Der Bordscheinwerfer beleuchtet eher den Tanz der Schneeflocken als irgend etwas anderes. Nur die Umrisse der vermummten Matrosen auf dem Vordeck sind zu erkennen. Wir sollen uns beeilen. Keiner steht länger in der Kälte als nötig. Ein Kran hebt uns an Bord, wir taumeln über das vereiste Deck zur Tür. Warme Luft und Dunkelheit umhüllt uns und Lärm.

Die "Tarmo" hat sich wieder in Bewegung gesetzt. An den stählernen Außenwänden knirschen die Eisschollen, brechen auseinander und drehen sich im Strudel des Kielwassers. Gemächlich wirkt das Ganze, friedlich – von außen. Innen steigt der Lärmpegel ins Unermessliche. Einen halben Meter dick sind die Eisschollen auf der Ostsee. Wenn sie an der Bordwand zerbrechen, klingt das innen, als würde jemand ständig auf Blech hämmern; je schneller das Schiff fährt, um so lauter. Immerhin, wir fahren.

Konzentration auf der Brücke

Mit dem Eisbrecher unterwegs in Estland
Kapitän KassBild: Andreas Schmidt

Oben auf der Brücke ist der ruhigste Platz. Angestrengt stiert der Steuermann vor sich ins Dunkel. Neben ihm leuchten die Flachbildschirme mit den elektronischen Seekarten. Und da sieht man sie alle liegen: Frachter, Tanker, Schleppverbände stecken im Eis und kommen nicht weiter. Manche warten einen halben Tag, bis sie befreit werden, andere zwei Wochen. Was helfen die Faxe der Reedereien an das Ministerium für Schifffahrt? Es gibt eh nur einen Eisbrecher – die "Tarmo".

Peedu Kass regt sich nie auf. "Ok, kein Problem, wir kommen", beruhigt der Eisbrecher-Kapitän die Wartenden immer wieder auf Englisch über Funk. Wann, das kann er nie so genau sagen – es hängt vom Eis ab. "Aber so ist das Seemannsleben", sagt Kass, "im Sommer ist das ganz nett hier, aber im Winter..." Er schaut so aus, als könne er einen Drink vertragen. Auf ihm lastet die Verantwortung, er gönnt sich nur wenig Schlaf. Ein ungewohntes Geräusch, eine ruckhafte Bewegung des Schiffes, und er steht wieder auf der Brücke, das Fernglas in der Hand.

Treiben im Eis

Mit dem Eisbrecher unterwegs in Estland
EisbrecherBild: Andreas Schmidt

Alles hängt momentan vom Eis ab, auch die "Merkur", ein schwedischer Schlepper mit einem leeren Lastkahn am Haken. Das Eis treibt mit dem Wind, die "Merkur" und ihr Lastkahn treiben mit dem Eis, etwa eine halbe Meile in der Stunde – kein gutes Gefühl für die Schlepperbesatzung. Jetzt braucht sie selber Hilfe.

Bis auf wenige Zentimeter bugsiert Kapitän Kass seine "Tarmo" an die "Merkur" heran. Die Matrosen werfen sich Leinen zu, zerren stählerne Trossen über das glitschige Deck. Irgendwann steht endlich die Verbindung, der Eisbrecher zieht an: 12.500 PS bewegen 3500 Tonnen Masse. Nach Minuten sind die "Merkur" und ihr Kahn aus dem Eis gebrochen. Mit dem Schlepper im Anhang steuert die "Tarmo" den nächsten Frachter an, der kann aus eigener Kraft im Kielwasser des Eisbrechers mithalten.

Mit dem Eisbrecher unterwegs in Estland
EisbrecherBild: Andreas Schmidt

Schiff für Schiff reiht sich ein, bis am Ende der Nacht ein Konvoi beisammen ist, den Peedu Kass und seine Mannschaft bis nach Kunda bringen wird, ein Industriehafen weiter im Osten.

Doch dann meldet sich die "Merkur" wieder: "Stop, stop, stop", schreit der Schlepperkapitän über Funk – zu spät. Die Verbindung zu seinem Lastkahn ist gerissen, ein Windenmotor unter der Last in die Knie gegangen. Der Eisbrecher kann nur noch den Weg in einen Nothafen freimachen, da darf die "Merkur"-Crew wenigstens an Land weiter warten. Die anderen Frachter folgen dem Eisbrecher noch bis nach Kunda. Einige haben ihre Flugtickets nach Hause schon gebucht. Bis die Schifffahrtswege wieder richtig frei sind, kann es noch bis April dauern.

Fremdes Landleben

Mit dem Eisbrecher unterwegs in Estland
BesatzungBild: Andreas Schmidt

Bis dahin wird Peedu Kass noch viele Nächte zusammengekauert auf der Brücke verbringen. Land hat er seit Weihnachten nicht mehr betreten. Es gibt eine Mannschaft auf dem Eisbrecher, und es spielt für den Dienstplan keine Rolle, ob auf See oder im Hafen gearbeitet wird. Lärmzulagen gibt es auch nicht. Doch Kass ist dieses Leben ganz Recht. In 43 Jahren auf See ist ihm das Landleben fremd geworden.