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Politik

100 Jahre Einsatz für den Kinderschutz

17. Mai 2019

Gewalt, Hunger und Flucht - diesen Kriegsfolgen sind Kinder wehrlos ausgesetzt. Für ihren Schutz setzt sich Save the Children seit 100 Jahren ein. Zum Jubiläum blickt die Organisation auf ihre Gründerin und neue Krisen.

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Save the Children - Uganda Schule in in Nakasongola
Bild: Andrew Pacutho/Save the Children

Der Erste Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen, als die Engländerin Eglantyne Jebb zum früheren Feind reist - nach Deutschland. Die ehemalige Grundschullehrerin sorgt sich um die Kinder des Kriegsgegners. Sie befürchtet, dass sie besonders unter der katastrophalen Versorgungslage und den Folgen der Reparationsforderungen der alliierten Siegermächte leiden. Neben Deutschland besucht Jebb im Jahr 1919 Österreich-Ungarn und den Balkan.

Die 43-Jährige aus wohlhabendem Haus, die sich seit Jahren sozial engagiert, sieht verzweifelte Kriegswaisen, erlebt Hungerelend, zerrissene Familien, versehrte und traumatisierte Menschen. Es sind Eindrücke, auf die sie ihr Literaturstudium in Oxford und ihre Forschungsarbeit in Cambridge unmöglich vorbereiten konnten.

Gegen alle Widerstände

Die Folgen des ersten "industriellen Kriegs" der Menschheitsgeschichte, dem bis zu 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen, prägen sich ihr tief ein. Eglantyne Jebb will helfen, möglichst konkret, möglichst schnell. "Alle Kriege, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, verhängnisvoll oder siegreich, sind Kriege gegen Kinder", sagt sie. Ein Satz, der ihr künftiges Handeln bestimmt. Nach England zurückgekehrt, will sie Geld sammeln. Doch die britische Öffentlichkeit weiß wenig vom Leid der deutschen Zivilbevölkerung. Große Presseartikel befassen sich hauptsächlich mit Deutschlands Kriegsschuld. Jebb bekommt heftigen Gegenwind; ihr Plan droht schon im Ansatz zu scheitern.

Eglantyne Jebb, Gründerin von Save the Children
Visionärin und Pionierin des Kinderschutzes: Eglantyne JebbBild: 2001 Snowbound

"Daraufhin hat sie sich mit schockierenden Fotos von verhungernden Babys auf dem Londoner Trafalgar Square gestellt und gefragt: Wofür stehen wir eigentlich als Land?", erzählt Susanna Krüger, die Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland, im DW-Interview. Als Strafe muss die Aktivistin für einige Tage ins Gefängnis.

Aber alle Widerstände und Beschimpfungen schüchtern sie nicht ein. Am 19. Mai 1919 gründet sie mit ihrer Schwester Dorothy Buxton den "Save the Children Fund". Erstmalig bekommt Deutschland Unterstützung aus England. Es ist tatsächlich wahr geworden: Der Sieger hilft dem Besiegten. Die Pionierin der Kinderrechte startet nun auch Hilfsprojekte in Russland, Armenien, Bulgarien, Rumänien und Griechenland.

Universelle Rechte für Kinder

1924 nimmt der zwischenstaatliche Völkerbund in Genf, ein Vorläufer der Vereinten Nationen, die von Jebb formulierte Erklärung der Kinderrechte in der "Genfer Erklärung" auf. Ihre Grundsätze sind Basis der 1989 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Kinderrechtskonventionen. Vorher habe man immer nur unverbindlich gedacht, "wir sind mildtätig und geben armen Kindern etwas", erklärt Krüger von Save the Children Deutschland. Jebb habe dagegen gehalten, dass das nicht ausreiche und gesagt, "Kinder haben universelle Rechte und diese Rechte bringen wir auf die internationale Agenda". Dies sei ein historischer Meilenstein gewesen und die große Lebensleistung Eglantyne Jebbs, urteilt Krüger.

Save the Children - Berliner Schulspeisung
Hilfe aus England: Schulspeisung in BerlinBild: UISE

Die englische Aktivistin starb nur vier Jahre nach der Unterzeichnung der Erklärung im Alter von 52 Jahren an den Folgen einer Operation. Mittlerweile ist Save the Children International mit ihrer Zentrale in London die größte unabhängige Kinderrechtsorganisation der Welt. Sie arbeitet in 120 Staaten, ist auf 28 Länderorganisationen angewachsen und steuert rund 25.000 Mitarbeiter. Seit 2004 gibt es die deutsche Sektion.

Die internationale spendenfinanzierte Nichtregierungsorganisation (NGO) bemüht sich vor Ort um Hilfe zur Selbsthilfe: Sie bezieht Dorf-Älteste und Gemeinderäte ebenso in ihre Arbeit ein wie Behörden und Regierungen. Save the Children organisiert Lebensmittel, Medikamente, Unterbringungsmöglichkeiten und Schulausbildung.

Jedes fünfte Kind gefährdet

Ihre größten Einsätze hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg - bei dem das erneut besiegte Deutschland wieder aus England unterstützt wird - im Korea- und Vietnamkrieg, während der Hungersnöte in Äthiopien, Somalia, Südostasien und im Sudan in den 1980er Jahren und nach dem Völkermord in Ruanda in den 1990er Jahren. Doch die Zahl der Kinder, die in Konfliktgebieten lebt, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gestiegen: Mehr als 420 Millionen Kinder lebten 2017 weltweit in Konfliktgebieten - fast jedes fünfte Kind ist davon betroffen. Zu dieser Erkenntnis kommt die jüngste Studie von Save the Children und des Instituts für Friedensforschung in Oslo.

190213 Infografik Kinder in Konfliktgebieten

Bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen der Kinderrechtsorganisation Save the Childern am vergangenen Donnerstag rief Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zum Schutz aller Kinder auf. "Unsere Verantwortung als Erwachsene ist es, Kinder zu schützen, egal wo sie geboren sind", sagte er in Berlin. Save the Children leiste dazu einen herausragenden Beitrag, gerade auch in Entwicklungsländern, lobte Müller.

Es dürfe nicht sein, dass Europa weiter Produkte importiere, in denen Kinderarbeit stecke. "Das reicht von der Schokolade bis zum Grabstein", sagte der Minister weiter. Kinder gehörten weder auf Kakaoplantagen noch in den Steinbruch, sondern in die Schule. Weltweit müssten mehr als 150 Millionen Kinder arbeiten, das sei fast jedes zehnte Kind.

Save the Children - Syrien Flüchtlingslager
Syrische Flüchtlingskinder spielen Fußball in einem Camp von Save the Children nahe der Grenze zur TürkeiBild: Ahmad Baroudi/Save the Children

Das 100-jährige Jubiläum der Organisation, das sich am Sonntag jährt, überschatten auch aktuelle Konfliktherde wie im Jemen und Irak. Außerdem werde die Arbeit der Helfer weltweit immer schwieriger und gefährlicher, weil "das internationale Völkerrecht weniger beachtet wird als früher", sagt Krüger.

"Wir erleben, dass Schulen und Krankenhäuser bombardiert werden. Es schützt auch nicht mehr, wenn man ein rotes Kreuz auf dem Auto hat. Man wird trotzdem beschossen." So etwas habe man vor zehn, fünfzehn Jahren noch nicht erlebt.

Schlechtere Chancen als die Eltern

Mit Sorge blickt die NGO auch auf die bevorstehende Europawahl. Denn nach Krügers Erfahrung spricht die Europäische Union "nicht mit einer Stimme", obwohl auch Kinder in Europa an zunehmender sozialer Spaltung leiden. "Wir haben 25 Millionen Kinder in Europa, die auch von Armut bedroht sind. Das ist natürlich eine andere Armut als vielleicht in Zentralafrika. Aber europäische Kinder haben heute schlechtere Chancen als ihre Eltern." Insofern hofft Krüger, dass Parteien gewählt werden, die vor allem für Kinder relevante Zukunftsthemen wie den Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und digitalen Wandel in den Fokus nehmen. Es gebe aber auch erfreuliche Entwicklungen in der Kindernothilfe, betont die Geschäftsführerin. "In den letzten 20 bis 30 Jahren konnte die Kindersterblichkeit um 50 Prozent gesenkt werden und mittlerweile gehen über 80 Prozent aller Mädchen zur Schule."

Save the Children - Mosambik Notunterkunft nach Zyklon Idai
Spielende Kinder vor einer Notunterkunft von Save the Children in MosambikBild: Save the Children/Hanna Adcock

Jüngst hat sich Save the Children in seinem Programm drei ehrgeizige Ziele gesetzt, die bis 2030 an die globalen internationalen Entwicklungsziele angebunden sind. Erstens: Kein Kind sollte mehr an vermeidbaren Krankheiten sterben. Zweitens: Alle Kinder haben ein Recht auf Grundbildung. Und drittens: Eine Welt, in der Gewalt gegen Kinder nicht mehr toleriert wird.

Save the Children sieht Deutschland mit seinem gewachsenen geopolitischen Gewicht dabei in besonderer Verantwortung. Als aktuelles Mitglied im UN-Sicherheitsrat und als weltweit zweitgrößter Geber humanitärer Hilfe komme der Bundesregierung "eine zentrale Rolle in der Verbesserung der Lage von Kindern in Konflikten zu", heißt es im letzten Lagebericht der Hilfsorganisation. Allerdings macht die derzeitige weltpolitische Entwicklung wenig Hoffnung, dass die Ziele von Save the Children fristgerecht erreicht werden.

Infografik Kinder in Konfliktgebieten DE
Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur