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Ein grünes Stromnetz für die EU

19. Juni 2024

Ein europaweites Netz für Strom aus erneuerbaren Energien würde beim Erreichen der Klimaziele helfen. Dafür mangelt es aber nicht nur an Geld, sondern auch an Gemeinsinn. Beides ist knapp in der EU.

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Strommasten und Windräder in der Nähe von Neurath im westdeutschen Nordrhein-Westfalen
Strommasten und Windräder in der Nähe von Neurath im westdeutschen Nordrhein-WestfalenBild: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Noch ist nicht klar, wie sich das Ergebnis der Europawahl auf die Politik der kommenden EU-Kommission auswirken wird - insbesondere auf das Ziel, die EU bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen.

Fest steht aber: Strom aus erneuerbaren Quellen ist wichtig für das Erreichen der Klimaziele. Und es gibt in Europa Regionen, die sich für bestimmte Formen der grünen Stromerzeugung besonders gut eignen. Um den ganzen Kontinent davon profitieren zu lassen, fehlt allerdings ein europaweites Stromnetz, das den neuen Aufgaben gewachsen ist.

"Die europäische Infrastruktur für Elektrizität ist schon heute sehr gut entwickelt", sagt Kadri Simson, seit 2019 EU-Kommissarin für Energie. "Doch im Zuge der Energiewende wird sich der Stromverbrauch verdoppeln. Wir müssen daher unser Netz modernisieren, damit wir mehr Strom aus erneuerbaren Quellen einspeisen können", so die Estin im Mai zur DW. Derzeit habe Europa erst die Hälfte des Weges geschafft.

Europäische Vielfalt - auch bei der Stromerzeugung

Bei der Erzeugung von grünem Strom haben die Länder Europas unterschiedliche Stärken. Im windigen Norden und an Nord- und Ostsee wird viel Strom aus Windkraft produziert, der sonnige Süden eignet sich gut für Solarstrom.

Offshore-Windpark in der Nordsee vor der belgischen Küste bei Ostende
Offshore-Windpark in der Nordsee vor der belgischen Küste bei OstendeBild: James Arthur Gekiere/BELGA/picture alliance

"Photovoltaik und Windenergie ergänzen sich gut", sagt Harald Bradke, Leiter des Kompetenzzentrums für Energietechnologien und Energiesysteme am Fraunhofer Institut in Karlsruhe. "Windenergie erzeugt vor allem im Winter viel Strom, die Photovoltaik vor allem im Sommer."

Auch die Möglichkeiten, Strom zu speichern, sind geographisch unterschiedlich verteilt. Hier bieten sich vor allem Pumpspeicher-Kraftwerke an, die wie riesige Batterien funktionieren. Ist mehr Strom verfügbar, als aktuell gebraucht wird, wird er dazu genutzt, um Wasser in einen Stausee oder auf einen Berg zu pumpen. Fehlt Strom, wird das Wasser wieder abgelassen und treibt dabei Turbinen an, die Strom produzieren.

"Solche Speichermöglichkeiten gibt es vor allem in Skandinavien und den Alpenländern, also Österreich, Italien und der Schweiz", so Bradke zur DW. "Darauf kann man dann zurückgreifen, wenn die Stromnachfrage höher ist als das, was wir gerade produzieren können."

Effizienter und günstiger

Je besser die Länder Europas vernetzt sind, desto effizienter ist die Versorgung mit grünem Strom. "Der Strom wäre preiswerter, weil er von dort bezogen wird, wo er besonders günstig hergestellt werden kann", sagt Bradke.

Luftaufnahme eines Solarkraftwerk in der Nähe von Sevilla in Südspanien
Solarkraftwerk in der Nähe von Sevilla in SüdspanienBild: Jorge Guerrero/AFP/Getty Images

Auch müsse man nicht so oft "teure Reservekraftwerke anschmeißen, die vielleicht nur wenige hundert Stunden pro Jahr laufen", so Bradke weiter. Solche Kraftwerke, die z.B. mit Gas betrieben werden, sind nötig, um die Nachfrage in Spitzenzeiten abzudecken.

In einem europaweiten Stromnetz könnte dieser Ausgleich stattdessen erfolgen, indem Strom quer durch den Kontinent transportiert wird - von dort, wo er gerade besonders günstig ist, an Orte, wo er gerade benötigt wird. "Davon profitieren dann alle", so Bradke.

Voraussetzung dafür sind allerdings zusätzliche Leitungen. Das Beispiel Deutschland zeigt, wo hier das Problem liegt. Im Norden des Landes wird viel Strom per Windkraft erzeugt, der aber vor allem weiter südlich benötigt wird, wo die Industrie sitzt.

Das Problem ist seit Jahren bekannt. Trotzdem kommt der Bau von Stromleitungen nur langsam voran. "Wir sind mit unserem Netzausbau um sieben Jahre im Verzug und hätten schon längst 6000 Kilometer mehr haben müssen", sagt Bradke.

Was den Ausbau verzögert

Das ist nicht nur ein Geldproblem. Viele Menschen wollen nicht in der Nähe von Strommasten wohnen. Sie befürchten Wertverlust für ihre Immobilien oder gesundheitliche Einschränkungen und ziehen gegen den Bau vor Gericht.

Die unterirdische Verlegung von Stromkabeln ist deutlich teurer und hat Nachteile für die Landwirtschaft. Die Kabel erwärmen sich und trocknen den Boden aus. Dort, wo die Kabel liegen, können Bauern dann kaum noch etwas anpflanzen und müssten entschädigt werden, so Bradke.

Pumpspeicherkraftwerke in Finhaut in der Schweiz
Pumpspeicherkraftwerke wie hier in Finhaut in der Schweiz funktionieren wie große BatterienBild: Denis Balibouse/REUTERS

Angesichts dieser Schwierigkeiten in nur einem Land wird erahnbar, wie problematisch ein europaweiter Netzausbau ist.

"Wenn eine Stromtrasse quer durch Deutschland gebaut werden sollte, damit Strom von Frankreich nach Polen fließen kann - dann dürfte die Akzeptanz in der Bevölkerung wahrscheinlich noch geringer sein, als wenn es um deutschen Strom für Deutschland geht", so Bradke.

Kopfschmerzen und Schmiermittel

Die EU ist sich der Schwierigkeiten bewusst. Gerade bei grenzüberschreitenden Verbindungen könne es zum Streit darüber kommen, welches Land von der Stromtrasse mehr profitiert, sagt Energiekommissarin Kadri Simson.

Solche Projekte aus EU-Mitteln zu finanzieren, sei oft ein Problemlöser. Die Regeln für den Bau Transeuropäischer Netze (TEN-E) wurden entsprechend angepasst, um den Zugang zu EU-Töpfen zu erleichtern und den Ausbau zu beschleunigen.

Kadri Simson, EU-Kommissarin für Energie
Kadri Simson, EU-Energiekommissarin seit 2019Bild: Jean-Francois Badias/AP Photo/picture alliance

Eine Studie im Auftrag der Industrie-Lobbyorganisation Europäischer Runder Tisch für Industrie schätzt die nötigen Investitionen in das Stromnetz bis 2030 auf rund 800 Milliarden Euro. Die EU-Kommission selbst hatte Ende des vergangenen Jahres in ihrem Aktionsplan für denselben Zeitraum knapp 600 Milliarden Euro veranschlagt.

"Das wirkt jetzt wie eine riesige Investitionssumme", so Simson zur DW, "aber auch konventionelle Energiequellen haben ja ihren Preis. Allein im Jahr 2022 haben die Europäer 600 Milliarden Euro für fossile Brennstoffe aus Drittländern ausgegeben."

Woher kommt das Geld?

Ein Teil der Kosten könne durchaus von privaten Investoren getragen werden, sagt Energieexperte Bradke und verweist auf den Spatenstich für eine Stromleitung zwischen Deutschland und Großbritannien, die ausschließlich mit privaten Mitteln finanziert werden soll.

"Große Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds sind sehr daran interessiert, in den Netzausbau zu investieren", so Bradke. "Die Rendite muss gar nicht so hoch sein, dafür aber langfristig und sicher."

Er weist aber darauf hin, dass Geld beim Netzausbau nicht alles ist. Ebenso wichtig sei es, den tatsächlichen Bedarf richtig einzuschätzen. Was passiert, wenn weniger Wärmepumpen oder Elektroautos eingesetzt werden als geplant? Und was, wenn Elektroautos massenhaft als Stromspeicher funktionieren und Strom auch ins Netz abgeben?

"In diesen Fällen braucht man weniger europäischen Ausgleich", sagt Bradke. "Und dann könnte es sein, dass wir Bauruinen in Form von Hochspannungsleitungen stehen haben, die gar nicht benötigt werden."

Energiekommissarin Simson weist darauf hin, dass die EU-Mittel für den Stromnetzausbau aus dem Topf "Connecting Europe Facility" kommen. "Ich setze mich sehr dafür ein, diesen Fonds zu verstärken, wenn der nächste mehrjährige Finanzrahmen der EU verhandelt wird", so Simson.

Der aktuelle Finanzrahmen, der den Haushalt der EU bestimmt, läuft noch bis 2027. Alles Weitere liegt dann in den Händen der kommenden EU-Kommission und des gerade neu gewählten EU-Parlaments.

Andreas Becker
Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.