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Dorf probt Utopie: Wie wollen wir leben?

Torsten Landsberg
8. August 2021

Weltweit verändern Alter und Migration die Gesellschaft. Der Dokumentarfilm "Wir alle. Das Dorf" erzählt von einer Vision für eine Gemeinschaft der Zukunft.

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Im Dokumentarfilm "Wir alle. Das Dorf" gehen Menschen über einen Acker.
Fantasie gefragt: Auf einem Acker im Wendland soll ein Dorf für 300 Menschen entstehenBild: Claire Roggan

Aller Anfang ist trist. Ein paar Menschen stehen im Regen auf einem kargen Acker. Nichts an diesem Ort wirkt verheißungsvoll. Der Stimmung der Gruppe kann die Atmosphäre nichts anhaben, manche sind neugierig, einige euphorisch, alle zuversichtlich. "Hier ist mein Bett", sagt eine Frau, während sie auf eine Stelle der Brachfläche zeigt. Dann springt sie freudig in die Luft.

Auf diesem Acker im Wendland soll ein Dorf entstehen: ökologisch, interkulturell, solidarisch. Die Mieten sollen mit Hilfe einer eigenen Genossenschaft bezahlbar sein und bleiben. 300 Menschen sollen hier leben, zusammengesetzt nach einem festen Schlüssel: 100 Ältere, 100 Jüngere - gerne mit Familien - und 100 Geflüchtete. Sie wollen füreinander da sein, sich kümmern. So die Idee.

Die Welt im demografischen Wandel

Die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, ist nicht nur vom Klima geprägt, sondern auch vom demografischen Wandel: Weltweit werden die meisten Gesellschaften älter, in Deutschland ist nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes schon heute jede zweite Person über 45 Jahre alt. In Indonesien wird der Altersdurchschnitt Prognosen zufolge bis 2050 um acht Jahre steigen, in China um mehr als neun Jahre. Wer wird sich um die Alten kümmern? Und wie verhindern wir eine zunehmende Distanz zwischen den Generationen?

Auch die Zahl der Single-Haushalte steigt stetig an, in Deutschland zwischen 1991 und 2019 von 34 Prozent auf 42 Prozent. Ein Drittel der allein lebenden Frauen ist zwischen 60 und 79 Jahre alt. In ländlichen Regionen sinken die Bevölkerungszahlen, weil es die Menschen in die Städte zieht. Die Nachfrage nach alternativen Lebensformen wie Generationen-WGs nimmt zu.

In einer Szene des Dokumentarfilms "Wir alle. Das Dorf" sitzen Menschen an Tischen zusammen und stoßen auf den Rohbau eines Hauses an, der im Hintergrund zu sehen ist.
Richtfest: Mit dem ersten fertiggestellten Haus wird die Vision auch für Skeptiker greifbarBild: Claire Roggan

Die Szene auf dem Acker liegt inzwischen fünf Jahre zurück, die Filmemacherinnen Antonia Traulsen und Claire Roggan haben sie für ihren Dokumentarfilm "Wir alle. Das Dorf" festgehalten. "Es ist eine gesellschaftspolitische und kulturelle Frage, wie wir uns das Leben in Zukunft vorstellen wollen", sagt Antonia Traulsen, die selbst im Wendland wohnt, nicht weit vom Acker-Dorf entfernt.

Über vier Jahre hinweg haben die Filmemacherinnen das Projekt begleitet. "Wir haben am Anfang nicht verstanden, woher diese Euphorie kam", sagt Traulsen. Erst mit der Zeit sei deutlich geworden, "dass es den Leuten wirklich darum geht, etwas zu verändern". 

Unerwartete Konflikte

Mittlerweile stehen zwölf Häuser, rund 50 Leute leben auf dem ehemaligen Acker. Bis zum Jahresende sollen es etwa 90 sein, über den Ankauf eines weiteren Grundstücks wird derzeit verhandelt. "Die Nachfrage ist riesig", sagt Hauke Stichling-Pehlke, einer der Initiatoren des Projekts. Er selbst bezeichnet sich und andere, die früh dabei waren, als Pioniere.

Hauke Stichling-Pehlke spricht vom Zerbröseln der ländlichen Strukturen. "Deshalb ist das hier kein reines Wohnprojekt, sondern ein Knotenpunkt im Landkreis, der nachhaltig und zukunftsfähig ist." Es gehe darum, Gemeinschaft gemeinsam weiter zu entwickeln - nicht nur die im Dorf. "Wenn ich sehe, wie die Menschen hier ihre Visionen verfolgen, ist das schon nah dran an der Anfangsidee", sagt er.

Im Dokumentarfilm "Wir alle. Das Dorf" begutachten zwei Männer eine Baufläche.
Die Initiatoren: Hauke Stichling-Pehlke und Thomas HagelsteinBild: Claire Roggan

Der Film zeigt aber auch, wo Konflikte aufgebrochen sind: In der Frühphase des Projektes sitzen die Einheimischen in einer Szene mit Geflüchteten über möglichen Grundrissen der künftigen Häuser. Deren Realisierung ist zwar noch weit weg, mit den Grundrissen sind aber alle einverstanden.

Als die Umsetzung Jahre später konkret wird, hat eine Flüchtlingsfamilie andere Vorstellungen, ihr Einzug ins Dorf ist damit unwahrscheinlich. Eine der einheimischen Frauen reagiert erbost, weil doch alle dabei gewesen seien, als die Pläne vorgestellt wurden. Eine andere räumt ein, die Geflüchteten vielleicht nicht ausreichend eingebunden zu haben.

"Die Geflüchteten hatten damals andere Probleme, bei einigen war nicht mal der Aufenthaltsstatus geklärt", sagt Claire Roggan. "Für diese Menschen ging es um elementare Dinge, für sie war nicht greifbar, dass hier in drei Jahren eventuell mal ein Haus stehen wird."

Kurz nach der Flüchtlingskrise 2015/2016 stand die Gesellschaft vor der Frage, wie die Geflüchteten integriert werden könnten. Selten wurde danach gefragt, wie sie integriert werden wollen. Das Dorf-Projekt zeigt anschaulich, dass es für Integration keine Blaupause gibt - nicht mal, wenn sie gut gemeint ist.

Auch kulturelle Traditionen und Vorbehalte treten zutage. Eine junge Frau aus Afghanistan sagt bei einem Treffen, sie müsse für ihre Eltern sorgen und in der Nähe bleiben, auch wenn sie selbst mit dem Studium beginne. Als aus der Runde erklärt wird, dass sie das nicht müsse, weil das Dorf sich auch um Dinge wie Arztbesuche kümmern werde, ist das für sie undenkbar. Um die Familie kümmert sich immer noch die Familie.

Aushandeln von Kompromissen 

Auf den ersten Blick wirkt die Gruppe der frühen Genossinnen und Genossen nicht so divers, wie sich das Projekt selbst versteht: Eine Waldorf-Lehrerin ist unter ihnen, eine Heilpädagogin, ein Erzieher, linksalternatives Milieu aus der Anti-Atomkraft-Bewegung.

Doch auch in der vermeintlich homogenen Gruppe treten Spannungen auf und stellen die Toleranz der Beteiligten auf eine harte Probe. Jeder soll sich einbringen, soweit er kann und will, es gibt keine verbindlichen Vorgaben, was bald zur Frage führt: Ist es noch gerecht, dass die einen sich mehr einbringen als die anderen, obwohl doch alle das gleiche Ziel verfolgen?

Die Filmemacherinnen Claire Roggan und Antonia Traulsen
Die Filmemacherinnen: Claire Roggan und Antonia Traulsen haben das Projekt vier Jahre begleitetBild: Kim Lena-Sahin

"Es ist beeindruckend, wie sehr die Menschen hinhören und sich ständig selbst hinterfragen, statt die Schuld bei anderen zu suchen", sagt Claire Roggan. Antonia Traulsen sieht das Gelingen des wachsenden Dorfes im ständigen Aushandeln von Kompromissen: "Es ist eine Kunst, auch im Streit im Gespräch zu bleiben und nicht beleidigt zu sein, sondern sich über die Vielzahl der Meinungen zu freuen."

Insofern sei das Sozial-Experiment auf dem niedersächsischen Acker vielleicht tatsächlich ein Laborversuch für das große Ganze, das künftige Zusammenleben der Gesellschaft.

Die Filmemacherinnen sind derzeit mit "Wir alle. Das Dorf" auf Kinotour.