Ein bewegtes Jahrzehnt
31. Dezember 2009Es war ein mächtiger Donnerschlag, der am 11. September 2001 von der Südspitze Manhattans ausgehend überall auf der Welt zu hören war. An den Radio- und Fernsehgeräten verfolgen die Menschen, wie zwei Passagiermaschinen in die Türme des World Trade Centers in New York gesteuert werden und das Symbol des freien Welthandels zum Einsturz bringen. Gleichzeitig rast eine Maschine in das Pentagon, das amerikanische Verteidigungsministerium, eine weitere stürzt auf einem Acker in Pennsylvania zu Boden. Fast 3000 Menschen verloren durch diese Terroranschläge ihr Leben. Den meisten Beobachtern war klar, dass die Welt am Tag danach eine andere sein würde.
Tot oder lebendig!
Der amerikanische Präsident George W. Bush stand vor der ersten großen Herausforderung seiner Präsidentschaft. Er ging sie mit seiner eher schlichten Art frontal an, indem er ein klares Feindbild zeichnete: Der Feind sei ein radikales Netzwerk von Terroristen, Feinde seien jene Regierungen, die diese Terroristen unterstützten und jeder, der nicht für Amerika sei, sei eben ein Feind. Wenig später eröffnete er die Jagd auf Osama Bin Laden, den Anführer von El Kaida, mit den Worten: "Im Westen Amerikas gibt es Poster, auf denen zu lesen steht: Gesucht – tot oder lebendig!"
In Deutschland – wie in ganz Europa – war das Mitgefühl groß und auch die Bereitschaft, beim "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" mitzumachen. Als der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem deutschen Bundestag von einer "Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt" sprach, wusste er die Mehrheit der Deutschen ebenso hinter sich wie bei seinem Versprechen "fest an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika zu stehen."
Einschränkung der Bürgerrechte
Wenige Tage später kündigte Innenminister Otto Schily an, durch vermehrte "Informationsgewinnung" den Staat gegen den Terrorismus schützen zu wollen. Das war der Startschuss für Gesetze zur Einschränkung von Bürgerrechten, zur Überwachung des Telefonverkehrs oder zur Lockerung des Briefgeheimnisses. Später wurden biometrische Reisepässe nach amerikanischem Vorbild eingeführt, das Land mit Überwachungskameras übersäht und Daten von deutschen Amerikareisenden vorab an die US-Geheimdienste übermittelt. Das Leben der Deutschen hat sich durch diese Maßnahmen verändert, genauso wie durch die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan.
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Sicherheit am Hindukusch verteidigen
Im Dezember 2001 stellten die Vereinten Nationen eine internationale Schutztruppe für Afghanistan zusammen. Denn dort wurde das Rückzugs- und Aufmarschgebiet der radikal-islamischen Terrorgruppen vermutet. Nach einem Satz des späteren Verteidigungsministers Peter Struck verteidigen seitdem deutsche Soldaten am Hindukusch die Sicherheit der Deutschen.
Das hat das Lebensgefühl der Deutschen ebenso verändert wie die Bilder von Särgen, in denen gefallene Soldaten nach Hause gebracht wurden. Neu für das kollektive Gedächtnis war auch die Auseinandersetzung um den Befehl eines deutschen Oberst, der Anfang September 2009 in der Nähe von Kundus zwei von Terroristen gekaperte Tanklaster bombardieren ließ. Bis zu 150 Menschen kamen dabei ums Leben – darunter viele Zivilisten.
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Krise am Finanzmarkt
Die schlimmste Wirtschaftskrise seit der großen Depression begann auf dem überhitzten amerikanischen Immobilienmarkt. Überschuldete Eigenheimbesitzer hatten zu Zeiten niedriger Zinsen Kredite ohne Zinsbindung und ohne Eigenkapital aufgenommen. Als die Zinsen stiegen, stiegen auch ihre monatlichen Raten. Millionenfach konnten sie ihre Kredite nicht mehr bedienen. Aber die Banken und Immobilienfinanzierer hatten diese nunmehr "faulen" Kredite schon längst zu Paketen zusammengeschnürt und weltweit an andere Finanzinstitute verkauft. Die Zahlungsunfähigkeit amerikanischer Eigenheimbesitzer löste deshalb eine weltweite Krise aus.
In den Abgrund geblickt
Am 15. September 2008 musste die viertgrößte US-Investmentbank – Lehman Brothers – Insolvenz anmelden. Im gleichen Moment verloren Sparer auf der ganzen Welt ihre Einlagen, wurden Banken mit in die Krise gezogen, die Geld bei Lehman Brothers investiert hatten. Die Krise nahm scheinbar unaufhaltsam ihren Lauf. Finanzminister Peer Steinbrück sagte, man habe an diesem Tag in den Abgrund der Weltwirtschaft geblickt und keiner habe ein Rezept gehabt, wie man die Krise bewältigen könne. Vor dem deutschen Bundestag prognostizierte er den USA ein Ende ihres "Status als Supermacht des Weltfinanzsystems".
Die Krise schwappte auf den europäischen und damit auch auf den deutschen Markt. 500 Milliarden Euro pumpt die Regierung in das deutsche Finanzsystem und erwirbt auch Beteiligungen an Banken. Der marode Immobilienfinanzierer HypoRealEstate wird 2009 zwangsweise verstaatlicht.
Staatsverschuldung ohne Ende
Aber der Preis ist hoch, denn zum Ende der Dekade haben alle öffentlichen Haushalte zusammen rund 1800 Milliarden Euro Schulden. Das entspricht etwa 21.000 Euro für jeden Bundesbürger – vom Baby bis zum Greis. Die Finanzkrise war nicht nur ein abstraktes Zahlenspiel, sondern machte sich auch in den privaten Haushalten bemerkbar. Viele Sparer waren von der Lehman-Pleite direkt betroffen, anderen brachen die Renten weg, weil die Versicherer keine Renditen mehr erzielen konnten. Besitzer von Immobilienfonds saßen auf wertlosen Papieren. Wer nicht warten konnte und seine Papiere verkaufen musste, hatte schlechte Karten.
Zudem war das Vertrauen in das deutsche Finanzsystem erschüttert. Während Millionen so genannter "kleiner" Sparer sich um ihr Geld betrogen fühlten, kassierten Manager trotz offensichtlicher Unfähigkeit Millionen schwere Abfindungen.
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Klimakrise
Die dritte Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Klimawandel. In Deutschland nahmen zwar immer mehr Menschen die Warnungen der Wissenschaftler ernst, aber wirklich besorgt um das zukünftige Leben ihrer Kinder und Enkel waren die wenigsten. Hermann Ott vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie hielt den Deutschen mangelndes Interesse – vielleicht aus Unwissenheit – vor. Viele, so Ott, denken, der Klimawandel sei ein Problem, um das man sich "mal kümmern" müsse. Tatsächlich aber bleiben nur noch wenige Jahre, um eine Trendwende beim Klima zu erreichen.
In den Medien kursierten Schreckensszenarien, nach denen bei einem Anstieg der Temperatur um vier bis sechs Grad weite Teile der Erde unbewohnbar werden. Einige Hundert Millionen Menschen seien dann unmittelbar vom Tod bedroht. Diese Dramatik nahm Umweltminister Norbert Röttgen während einer Bundestagsdebatte im November 2009 auf: "Die Ökokrise, die kommt, wenn wir uns nicht ändern, hat eine existenzielle Dimension."
Umweltpolitik
Die von Norbert Röttgen zur "existenziellen Überlebensfrage" erhobene Umweltpolitik kam gegen Ende der Dekade bei den Bundesbürgern an. Elektrische Geräte wurden mit Umweltgütesiegeln und Verbrauchsdaten versehen, Strom sparende Glühlampen wurden eingeführt und neuartige Antriebsarten für PKW entwickelt. Diese und viele andere Maßnahmen bestimmten in immer stärkerem Umfang den Alltag der Bundesbürger. Aber es hat neben globalen Entwicklungen auch nationale Ereignisse gegeben, die das Leben in Deutschland verändert haben.
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CDU-Spendenaffäre
Zur Jahrtausendwende steckte die CDU in einer schweren Krise - ausgelöst durch eine Spendenaffäre. Einige Millionen Spendengelder waren vorbei an den offiziellen Parteikassen auf illegalen Konten im Ausland "geparkt" und bei Bedarf nach Deutschland transferiert worden. Dies geschah mit Wissen und Billigung des damaligen Ehrenvorsitzenden und Alt-Kanzlers Helmut Kohl. Geradezu geschmacklos wurde es, als die Spenden zu "jüdischen Vermächtnissen" gemacht wurden. Die Deutschen erlebten den Untergang der Moral in der Politik und den unschönen Abgang eines Alt-Kanzlers.
Kohl weigert sich bis heute, die Namen der tatsächlichen Spender öffentlich zu machen. Mit dem Abstieg Helmut Kohls war der Aufstieg Angela Merkels verbunden. Von der CDU-Generalsekretärin schaffte sie es bis ins Kanzleramt: als erste Frau, als erste Ostdeutsche und als erste Wissenschaftlerin.
Atomausstieg
Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatten die Deutschen eine rot-grüne Bundesregierung gewählt, die am 1. Februar 2002 eines ihrer Wahlversprechen in die Tat umsetzte und den Ausstieg aus der Atomenergie durchsetzte. Damit war eines der strittigsten Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte vorerst gelöst und die Kombattanten befriedet.
Die "Linke"
Wenig später stand die rot-grüne Regierung vor ihrer größten Herausforderung. Denn mit der Agenda 2010 sollte der Sozialstaat reformiert und "zukunftssicher" gemacht werden. Aber so sehr die einzelnen Maßnahmen auch gelobt wurden, so sehr ging der Schuss für die SPD nach hinten los. Denn die Reformen der Agenda 2010 gingen zu Lasten der sozialdemokratischen Klientel. Der SPD liefen die Wähler in Scharen davon, viele wechselten zur Partei "Arbeit und soziale Gerechtigkeit - die Wahlalternative" – kurz WASG. Die hatte sich am 22. Januar 2005 gegründet und bald darauf prominente Unterstützung des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine bekommen.
Seit der Fusion mit der SED-Nachfolgepartei PDS zur Partei "Die Linke" existiert am linken Rand wieder eine ernstzunehmende politische Größe in Deutschland. Die Folgen dieser politischen Entwicklung sind dramatisch, denn aus dem Vierparteiensystem (Union, SPD, FDP und Grüne) ist mit der "Linken" ein Fünfparteiensystem geworden. Mehrheits- und Regierungsbildungen werden in Zukunft in Deutschland einerseits schwieriger, andererseits sind dadurch aber auch neue politische Konstellationen möglich.
Benedikt XVI.
Das Jahr 2005 hielt für die Deutschen noch einen Höhepunkt bereit. Am 19. April stieg weißer Rauch über dem Vatikan in Rom auf. 17 Tage nach dem Tod des populären polnischen Papstes Johannes Paul II. trat Kardinal Jorge Estévez auf den Balkon und verkündete, das Konklave habe einen Papst gefunden: "Dominum Josephum sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Ratzinger."
Nach über 480 Jahren saß mit Josepf Kardinal Ratzinger wieder ein Deutscher auf dem Stuhle Petri. Als er wenig später in Köln beim Weltjugendtag erschien, jubelten ihm mehr als eine Million katholische Gläubige zu, in der Stadt am Rhein herrschte für einige Tage der Ausnahmezustand.
Die Welt zu Gast bei Freunden
Aber nicht nur die große Politik hat die Deutschen bewegt. Im Sommer 2006 lautete das Motto der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland "Die Welt zu Gast bei Freunden". Die Menschen strömten zu Hunderttausenden zum "Rudelgucken" und erwiesen sich dabei als ausgelassene Wesen, wie sie die Welt bis dahin nicht gekannt hat. An fast jedem Auto wehte eine kleine schwarz-rot-goldene Fahne und brachte einen Patriotismus zum Ausdruck, der andere nicht herabsetzte. Nach vier Wochen hatten die Deutschen viele Millionen Freunde gewonnen und einen großen Schritt gemacht - auf dem Weg zu einer "ganz normalen Nation".
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Karin Jäger