Ecuador in der Gewaltspirale
21. Oktober 2021Es sollte ein schöner Ausflug in ein Eiscafé werden. Der elfjährige Sebastián stand gerade am Tresen, die Eltern saßen mit der kleinen Schwester an einem Tisch. Plötzlich fielen die Schüsse. Zwei Kriminelle lieferten sich an der Straßenecke vor dem Eiscafé einen Schusswechsel mit der Polizei. Der Vater brachte seine Tochter unter den Tisch in Sicherheit und rief nach seinem Sohn. Sebastián versuchte noch seine Mutter zu erreichen, als ihn die tödliche Kugel traf. Dieser Vorfall geschah am vergangenen Sonntag in der Hafenstadt Guayaquil.
In den vergangenen Monaten hat die Gewalt in Ecuador deutlich zugenommen. Zwischen Januar und Oktober dieses Jahres wurden in dem südamerikanischen Land laut Regierung fast 1900 Tötungsdelikte (elf pro 100.000 Einwohner) registriert. 2020 waren es im gesamten Jahr knapp 1400. Hauptursache der Gewalt ist die zunehmende Präsenz von rivalisierenden mexikanischen Drogenkartellen und der Kampf um die Vorherrschaft auf den Transitwegen des internationalen Drogenhandels. Mit seiner Lage zwischen den bedeutenden Drogenproduzenten Kolumbien und Peru ist Ecuador eine wichtige Drehscheibe für den Drogenschmuggel in die USA und nach Europa.
Besonders betroffen ist Guayaquil, die größte Stadt des Landes. Dort kam es Ende September erneut zu Ausschreitungen in einer völlig überfüllten Haftanstalt mit mehr als hundert Toten. In den chronisch überfüllten ecuadorianischen Gefängnissen kommt es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der Ausnahmezustand und die politischen Motive des Präsidenten
Am Montag dieser Woche verhängte Präsident Guillermo Lasso einen landesweiten 60-tägigen Ausnahmezustand und begründete ihn mit der Notwendigkeit eines entschlossenen Kampfes gegen die Kriminalität im Land. Militär und Polizei wurden umgehend auf die Straßen entsandt, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Zudem gibt der Ausnahmezustand den Behörden die Befugnis, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken. Mit martialischen Worten sagte der Präsident den Sicherheitskräften seine volle Unterstützung zu und garantierte ihnen Straffreiheit in der Ausübung ihrer Pflichten.
Zahlreiche Beobachter vermuten deswegen auch ganz andere Gründe für die Verkündung des Ausnahmezustands als den Kampf gegen die Gewalt im Land. "Es ist erschreckend, dass Lasso den Begriff der Kriminellen und Terroristen ausdehnt und damit auch Streikende, zum Beispiel die Indigenen, Reisbauern oder Transportorganisationen mit einbezieht. Dank des Ausnahmezustands sind die Streiks und Proteste dieser Organisationen zunächst auf Eis gelegt", betont Constantin Groll, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Ecuador gegenüber der DW.
Auch US-Außenminister Antony Blinken hielt es anscheinend für angebracht, Präsident Lasso an die Einhaltung demokratischer Regeln zu erinnern. Bei seinem Besuch in Quito erklärte Blinken, dass der Drogenhandel bekämpft werden müsse, ohne dabei "demokratische Werte" zu verletzen.
Jose Miguel Vivanco, Direktor der Lateinamerika-Abteilung bei Human Rights Watch (HRW), warnte wiederum vor der Präsenz des Militärs auf den Straßen und wies darauf hin, dass "die Streitkräfte für den Krieg und nicht für die Kontrolle der öffentlichen Ordnung und der Kriminalität ausgebildet sind".
Das fundamentale Problem: Armut und Wirtschaftskrise
Eine populistische Politik der harten Hand und der starken Präsenz von Sicherheitskräften auf den Straßen könne leicht über die eigentlichen Probleme des Landes hinwegtäuschen, so die Kritiker. Ein wichtiger Nährboden der Gewalt in Ecuador sind die wachsende Armut und soziale Ungleichheit. Das südamerikanische Land mit seinen rund 17 Millionen Einwohnern steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Das Bruttoinlandsprodukt brach im vergangenen Jahr laut Regierungsangaben um 7,5 Prozent ein. Rund ein Drittel der Ecuadorianer lebt derzeit in Armut - mit dem Beginn der Pandemie war der Anteil deutlich angestiegen.
Der konservative Präsident und Ex-Banker Guillermo Lasso trat erst im Mai 2021 nach einem knappen Wahlsieg sein Amt an und gilt schon jetzt als angeschlagen. Nach den Enthüllungen in den "Pandora Papers" hat das ecuadorianische Parlament für eine parlamentarische Untersuchung gegen den Präsidenten gestimmt. Dabei solle geprüft werden, ob der konservative Politiker durch den Besitz von Vermögenswerten in Steueroasen gegen ecuadorianisches Gesetz verstieß.
Glücklose Politik des Präsidenten
"In den ersten Monaten seiner Präsidentschaft stieg die Popularität von Lasso enorm an. Eine erfolgreiche Impfkampagne gab seiner Präsidentschaft einen guten Start", räumt der ecuadorianische Anthropologe und Migrationsforscher Jacques Ramírez Gallegos im Gespräch mit DW ein. Damit höre die Liste seiner Erfolge aber auch schon auf, setzte Gallegos noch hinzu. Der Bruch mit der christdemokratischen Partei, die ihm ins Präsidentenamt verhalf, entzog ihm die benötigte Mehrheit im Parlament, um dringende Reformprojekte zu verabschieden. "Mangelnde Erfahrung und Ungeschicklichkeit haben zudem dafür gesorgt, dass keines der von der Regierung Lasso geplanten Gesetzesprojekte im Parlament verabschiedet werden konnte", so Ramírez Gallegos. Die wichtigsten Vorhaben seien dabei nicht mal an den Inhalten gescheitert, sondern aus formalen Gründen.
Die Verhängung des Ausnahmezustands kann also auch als eine Folge des glücklosen Handels und der Fehler der aktuellen Regierungsarbeit von Präsident Lasso interpretiert werden. "Der Ausnahmezustand spiegelt zumindest eine Geringschätzung der demokratischen Spielregeln und Institutionen und ein Fehlen einer Konsens-orientierten politischen Kultur wider", so der Büroleiter der FES in Quito.
In der Bevölkerung macht sich längst Unmut gegen die Regierung breit. Angekündigte Protestaktionen sind vorerst wegen des Ausnahmezustands unmöglich geworden. Laut dem Umfrageinstitut Perfiles de Opinion sind die anfänglichen 74 Prozent Zustimmung für Guillermo Lasso auf aktuell 34 Prozent abgestürzt.
Constantin Groll beobachtet die Entwicklung mit Sorge: "In Ecuador wird viel spekuliert ob, und wie lange sich die Regierung noch an der Macht halten kann. Dabei gehen die Positionen weit auseinander. Ich persönlich finde diese Frage eher weniger wichtig. Mich beunruhigt viel mehr, dass mit jeder neuen Konfrontation die bereits schlechte demokratische politische Kultur und die Demokratie insgesamt Schaden nimmt".