1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

E-Commerce: Geht Gipfelstürmer Temu die Puste aus?

2. März 2024

Die Werbung des chinesischen Online-Versandhändlers ist derzeit allgegenwärtig. Auf den ersten Blick hat Temu einen erfolgreichen Wachstumskurs eingeschlagen. Doch Experten bleiben skeptisch - aus vielen Gründen.

https://p.dw.com/p/4d5sF
Symbolbild: Handy-Display mit Temu-App dahinter das Temu-Logo
In den USA und dem Vereinigten Königreich sind die Nutzerzahlen von Temu bereits wieder rückläufigBild: Jakub Porzycki/NurPhoto/picture alliance

Wie nahezu jeder Heranwachsende bereitet auch Temu Sorgen - und die Liste der Bedenken über die Super-billig-Plattform aus China ist sehr lang. Zunächst äußerten westliche Experten Besorgnis über all die Daten, die das dahinterstehende Unternehmen PDD abgreifen könnte. Um Vorwürfe zu entkräften, die chinesische Regierung könnte darauf zugreifen, verlegte PDD seinen Sitz nach Irland und den von Temu selbst in die USA. Doch nun rücken andere Probleme ins Blickfeld.

Aggressives Marketing mit Erfolg

Zurzeit kann man der Werbung des Unternehmens kaum entgehen. Sogar beim diesjährigen Super Bowl - dem Finale der American-Football-Liga NFL - lief der Spot mit dem Slogan "Shop like a billionaire" (dt.: Kaufe wie ein Milliardär ein) gleich mehrere Male.

1,7 Milliarden US-Dollar (rund 1,57 Mrd. Euro) habe das Unternehmen im Jahr 2023 ins Marketing gesteckt, heißt es bei der US-Investmentbank JP Morgan Chase, im laufenden Jahr könnten es 3 Milliarden (rund 2,77 Mrd. Euro) US-Dollar werden.

Leuchtreklame heißt Besucher des Super Bowl LVIII in Las Vegas willkommen
Ein 30-Sekunden-Spot beim Super Bowl soll bis zu 7 Millionen Euro gekostet haben. Der Temu-Spot lief während des American-Football-Finales dreimalBild: Patrick T. Fallon/AFP/Getty Images

Nach dem Launch in den USA im September 2022 avancierte Temu schnell zur am häufigsten heruntergeladenen App des Landes. Dies galt im vergangenen Jahr auch im Vereinigten Königreich, in Frankreich und in Deutschland. Dabei wurden die Temu-User nach den Erkenntnissen der Beratungsfirma GWS Magnify zufolge immer älter. In den USA und in Großbritannien war die User-Gruppe ab 55 Jahren die größte.

Billig statt schnell, Masse statt Klasse

Anders als Amazon, Zalando aus Deutschland und andere Online-Versandhändler bringt Temu die Käufer direkt mit den Herstellern in China in Kontakt. Von dort werden die Waren ohne Zwischenhändler an die Adressen der Käufer in Europa und Nordamerika versandt. Und im Gegensatz zur Ein-Tages-Lieferung, die im Onlinehandel mittlerweile üblich ist, spielt sie bei Temu keine Rolle. Hier geht es nur darum, den - mit Abstand - niedrigsten Preis zu bezahlen, auch wenn man dafür ein oder zwei Wochen auf die Waren warten muss.

Die Preise könnten sich allerdings als nicht nachhaltig erweisen, meint Bruce Winder, Handelsanalyst mit Sitz in Toronto, Kanada: "Temu scheint mit seiner Preisstrategie vor allem Marktanteile gewinnen zu wollen."

Elektrogeräte, unsichere Spielzeuge und Plagiate

Zudem sieht sich das Unternehmen einer Unmenge Geschichten über minderwertige und defekte Elektrogeräte, unsichere Spielzeuge, offenkundige Plagiate und verloren gegangene Pakete gegenüber. Auch die deutsche Regierung ist schon darauf aufmerksam geworden und kündigte eine bessere Überwachung ankommender Waren an.

Symbolbild: Orangefarbenes Temu-Paket in Nahaufnahme
Millionenfach kommen die orangen Temu-Pakete täglich in Europa und Nordamerika anBild: Nikos Pekiaridis/NurPhoto/picture alliance

Der Analyst Winder erwartet angesichts des Wachstums der Plattform, dass sich die Kritik weiter häufen wird. Das Unternehmen müsse sich irgendwann mit den Problemen befassen, um langfristig zu überleben: "Wenn Temu die Herausforderungen angeht, wird das die Kosten erhöhen und womöglich auch die Preise."

Aber auch in Sachen Datenschutz, ökologische Nachhaltigkeit, geistige Eigentumsrechte und Arbeitsbedingungen in den Fabriken steht laut Winder nicht weniger als die Legitimität des Unternehmens auf dem Spiel.

Importe unter den Zollschranken

In den USA und Europa sehen Paketdienste und Zollbeamte immer häufiger die orangen Temu-Pakete. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete kürzlich, dass der chinesische Onlinehändler täglich rund 4000 Tonnen Waren um die Welt schickt. Dabei belegt Temu auch einen wachsenden Anteil verfügbarer Luftfrachtkapazitäten. Das treibt die Kosten und erzeugt Engpässe auf manchen Routen.

Im Juni 2023 veröffentlichte der Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses für den strategischen Wettbewerb mit der Kommunistischen Partei Chinas einen Bericht, laut dem Temu und der Fast-Fashion-Anbieter Shein pro Tag fast 600.000 Pakete unter der "Minimis-Regel" in die USA senden. Damit können die meisten Waren zollfrei eingeführt werden, wenn der Warenwert pro Paket, Person und Tag unter 800 US-Dollar (740 Euro) liegt. Zusammen seien die beiden Unternehmen für 30 Prozent aller Minimis-Pakete verantwortlich.

Barcelona bekämpft Lieferverkehr

Viele Wettbewerber genießen diesen Vorteil nicht, weil sie ihre Waren in Großlieferungen in die USA einführen. Im Jahr 2022 bezahlte der US-Bekleidungsanbieter Gap für Importe aus Produktionsländern 700 Millionen US-Dollar (rund 650 Millionen Euro) Einfuhrzölle; der schwedische Konkurrent H&M zahlte 205 Millionen US-Dollar (rund 190 Millionen Euro).

Lieferungen aufteilen, um Zölle zu vermeiden

In der Europäischen Union sind Importe nur bis 150 Euro (162 USD) von Zöllen ausgenommen. Im Jahr 2022 waren nach Angaben der EU-Kommission annähernd eine Milliarde Pakete so deklariert. Nach vorläufige Erhebungen hat sich diese Zahl im vergangenen Jahr verdoppelt.

Die schiere Menge macht es Behörden nahezu unmöglich, mit der Entwicklung schrittzuhalten: "Schätzungen zufolge wird bei 65 Prozent der Pakete, die in die EU gelangen, bewusst ein zu niedriger Wert in der Zollanmeldung angegeben, um diese Befreiung in Anspruch zu nehmen", teilte die Kommission im Mai 2023 mit. Auf bestimmte Unternehmen verwies sie dabei nicht.

Einige Importeure umgehen die Zölle allerdings auch, indem sie große Bestellungen in mehrere kleine unter 150 Euro aufteilen - was zur Höhe der Paketzahlen beiträgt.

Nutzerzahlen sinken, Verweildauer steigt

Derweil gibt es bereits Hinweise, dass sich der Temu-Hype wieder abkühlt. Die Nutzerzahlen sind laut GWS Magnify teilweise schon wieder zurückgegangen. Im Vereinigten Königreich erreichten sie ihr bisheriges Maximum von 17 Millionen im November 2023, in den USA verzeichneten sie bereits zwei Monate zuvor ihren vorläufigen Höchstwert von 83,2 Millionen.

Allerdings verbringen die Nutzer demnach inzwischen deutlich mehr Zeit mit Temu als mit anderen Online-Händlern wie Amazon und eBay. Im Vereinigten Königreich verbrachten die User im Februar 2024 durchschnittlich 21 Minuten am Tag mit der chinesischen App, in den USA sogar 23 Minuten. Mit Amazon beschäftigten sie sich lediglich acht, respektive elf Minuten täglich.

Symbolbild: Eine Hand bedient die Temu-App auf einem Smartphone
Spielerische Features halten Nutzer länger in der Temu-App als bei Wettbewerbern wie Amazon und eBay, sagen ExpertenBild: Giordano Ciampini/empics/picture alliance

Neue Kunden zu finden, könnte für Temu zunehmend schwer werden. Schließlich ist der Händler vollkommen auf Schnäppchenjäger fixiert, die nur nach dem niedrigsten Preis suchen. Viele Experten gehen davon aus, dass das Unternehmen mit jedem Artikel Geld verliert, nur um seine Marktanteile auszubauen. Andere vermuten, dass es schon bald zum Verkauf teurerer Artikel übergehen wird.

Auch wenn Temu sein rasantes Wachstum von 2023 nicht aufrechterhalten hat, kann sein Platz unter den Einzelhändlern in den USA und dem Vereinigten Königreich nicht ignoriert werden, sagt Paul Carter, CEO von GWS Magnify, im Gespräch mit der DW: "Temu hat eine beträchtliche und treue Nutzerbasis aufgebaut und erfreut sich besonderer Beliebtheit unter älteren Frauen."

Carter glaubt, dass es vor allem die "Customer Journey" (dt.: Kundenreise) ist, die Nutzer mit persönlichen Belohnungen und spielerischen Einkaufsmöglichkeiten online hält. Für Wettbewerber sei diese Nutzerbindung schwer zu imitieren.

Timothy Rooks, Deutsche Welle
Timothy Rooks ist Reporter und leitender Redakteur der DW in Berlin.