Wundersame Vermehrung der Wähler
17. Januar 2019Großfamilien genießen in der Türkei großen Respekt. Insbesondere türkische Kommunalpolitiker scheinen ihnen besonders zugeneigt. Nur wenige Wochen vor den Kommunalwahlen am 31. März sind in vielen türkischen Städten auffällig viele Wähler auf engstem Wohnraum registriert.
So wurden in der Wohnung eines Hausmeisters in der türkischen Stadt Bingöl in Ostanatolien 224 registrierte Wähler ausgemacht, wie Mitglieder der Oppositionsparteien HDP und CHP herausgefunden haben. In den vergangenen Tagen sind viele solcher dubiosen Wählerregistrierungen aufgetaucht - ob in Viehställen, auf Baustellen oder sogar in leerstehenden oder gar nicht existierenden Gebäuden.
In einer einzigen Wohnung sollen es sogar mehr als 1000 Wähler sein. Mitglieder der Republikanischen Volkspartei CHP sprechen sogar von eingetragenen Wählern im fünften Stockwerk eines Hauses in Istanbul, das nur vier Etagen hat.
Warten auf elektronische Urne
Auch sollen Bürger als Wähler in Städten registriert sein, obwohl sie eigentlich ganz woanders wohnen. Der CHP-Abgeordnete Gürsel Tekin ist frustriert: "Ein Land, dem es nicht gelingt, 56 Millionen Wähler vernünftig zu registrieren, wird nichts erreichen."
Dabei hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits im Jahr 2005 erklärt, dass die Wählerregistrierung in Zukunft elektronisch ablaufen solle. "Dass wir 14 Jahre danach immer noch mit Wahlzetteln arbeiten, zeigt, welche Prioritäten gesetzt werden", so Tekin. Das Problem habe aber nichts mit Technologie oder Kapazitäten zu tun: "Die Regierenden wollen einfach, dass es ist, wie es ist."
Türkische Großfamilien
Als Meral Danış Beştaş von der prokurdischen Partei HDP das Thema im Parlament vorbrachte, winkte die Regierung ab. Ihre Forderung, endlich etwas gegen die ominösen Registrierungen zu tun, blieb unbeantwortet. Stattdessen wurde die Abgeordnete von AKP-Vertretern mit der Bemerkung abgespeist, "manche Familien seien eben sehr groß", wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. Das türkische Innenministerium ließ in einer knappen Mitteilung verlauten, dass es daran arbeite, die Widrigkeiten auf ein Minimum zu senken.
Für die Oppositionsparteien CHP und HDP ist indes klar: Das Wahlregister wird manipuliert, um das Ergebnis der Kommunalwahlen zu beeinflussen. Entsprechend könnte die Abstimmung Ende März nicht transparent und sicher ablaufen. Hadimi Yakupoğlu, der die CHP im Hohen Wahlausschuss, der höchsten Wahlbehörde der Türkei, vertritt, ist überzeugt: "Die Bürgermeister und Parteien sind schuld."
Waffenschein auf Lebenszeit
Einige Bürgermeister hätten Einwohner anderer Dörfer bei sich registriert, um sich so ihr Amt zu sichern. "Bürgermeister zu sein ist attraktiv", so Yakupoglu. Sie würden gut verdienen, der Staat bezahle die Versicherung und Zeit ihres Lebens haben sie einen Waffenschein. "Daher versuchen sie, so viele Wähler wie möglich zu bekommen."
Aber auch Parteien würden mit dieser Methode versuchen, sich Mehrheiten zu sichern - vor allem in den Orten, in denen ihr Sieg nicht sicher scheint. Ähnliche Unregelmäßigkeiten gab es auch schon früher. Aber Yakupoglu ist überzeugt: "Noch nie war es so schlimm wie jetzt."