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Die WM krempelt Russland um

16. Juli 2018

Die Weltmeisterschaft hat mehr zu bieten als einen neuen Champion. Unser WM-Reporter war in Russland unterwegs und hat festgestellt: die Menschen haben Sympathiepunkte gesammelt und einige Klischees widerlegt.

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WM2018 - Russische Fans
Bild: picture-alliance/SvenSimon/E. Kremser

Dann war Schluss. Die letzten verbliebenen Fans der kroatischen Nationalmannschaft feierten am Rande des Luschniki-Stadions. Sie tanzten, sangen und sprangen wild umher. Die Stimmung war trotz Finalniederlage gegen Frankreich ausgelassen. Wenige Meter weiter hatten sich hunderte Volunteers aufgestellt. "Spasibo", riefen sie den Fans zu und klatschten ein letztes Mal mit ihren übergroßen Schaumstoff-Händen mit den Besuchern ab. Sie bedankten sich für eine wirklich schöne Weltmeisterschaft. Wehmut lag in der Luft, denn die WM war nun endgültig vorbei. Vier Wochen voller Fußball, exotischer Fans und wunderbarer Geschichten liegen nun hinter den Volunteers und auch hinter mir. Dass meine Erinnerungen an die Zeit in Russland von positiven Gedanken dominiert werden, hätte ich zu Beginn meiner Reise allerdings nicht geglaubt.

"Ich schäme mich für unser Team"

Russland sei grau, die Menschen seien hart, irgendwie unzugänglich und unfreundlich, das Interesse an Fußball sehr gering, Eishockey würde hier klar dominieren - so hatte man mich auf die Reise „vorbereiten" wollen. Die Ankunft in Watutinki, dem kleinen Ort knapp 40 Kilometer von Moskau entfernt, wo die deutsche Nationalmannschaft ihr Lager aufgeschlagen hatte, schien all diese Klischees zunächst auch zu bestätigen. Plattenbauten dominierten das Stadtbild, kaputte Straßen, demolierte Autos - von WM-Euphorie war hier gar nichts zu spüren.

Russland Watutinki Plattenbauten
Plattenbauten in Watutinki: WM-Euphorie? FehlanzeigeBild: picture-alliance/AP Photo/M. Probst

"Ich schäme mich für unsere Nationalmannschaft. Die spielen nur, wenn man ihnen genug Geld in den Hals wirft", beschwerte sich dann auch Sergey über die russischen Fußballer. Der Taxifahrer, der mit seinem ganz eigenen Fahrstil auf einer Rennstrecke sicher besser aufgehoben wäre als auf den russischen - von langen Staus gebeutelten - Straßen, hatte mir gleich zu Beginn meiner Reise den letzten Funken Hoffnung auf eine schöne WM genommen.

Nikolskaya wird zur Open-Air-Disko

Es dauerte ein paar Tage bis ich mich an die neue Umgebung gewöhnt hatte. Auch der massive Verkehr machte mir (fast) nichts mehr aus. Der Weg zum Trainingsplatz des DFB war mit knapp sieben Kilometern relativ kurz, dauerte aber gerne mal 45 Minuten. Geduld war also gefragt, das wurde mir relativ schnell klar. Und so stellten die Kollegen und ich uns täglich in den Stau und blieben geduldig. Trotz einiger - auch sprachlicher - Hürden, das Abenteuer Russland hatte für mich begonnen.

Nach einigen Tagen voller Pressekonferenzen und Trainingseinheiten mit Toni Kroos und Co., musste die deutsche Nationalmannschaft in Moskau zu ihrem ersten Spiel antreten. Doch nicht der hochgelobte Weltmeister, sondern Gegner Mexiko zauberte mir und vielen Kollegen ein Lächeln ins Gesicht. Vor, während und nach dem Spiel machten die nordamerikanischen Anhänger nämlich deutlich, dass die WM zu einem großen Fanfest mutieren könnte.

Stimmgewaltig feuerten die Mexikaner ihre Mannschaft an und am Ende durften sie sogar einen verdienten Erfolg gegen die Weltmeister-Elf von Joachim Löw feiern. Überall in Moskau, egal ob am Roten Platz, der Erlöser-Kirche oder auf der Nikolskaya, traf ich Menschen in dunkelgrünen Trikots, die immer gut gelaunt und für ein kurzes Gespräch zu haben waren.

Die WM-Party war in vollem Gang

Der erste längere Aufenthalt in Moskau bestätigte meine Hoffnung auf ein unterhaltsames Turnier. Auf der Nikolskaya, der Einkaufsstraße der russischen Hauptstadt, feierten Fans aus diversen Ländern ausgelassen. Einige Moskauer hatten ihre nicht gerade dezent getunten Autos in die Fußgängerzone gestellt, der Motor lief und die Musik war voll aufgedreht. Menschen verkauften kaltes Bier, andere tanzten auf der Straße oder eben auf dem Autodach - ganz nach persönlichem Gusto. Die Polizisten, die außerhalb dieser WM sicher anders auf derartige Feierlichkeiten reagiert hätten, zückten an diesem Abend lediglich ihre Mobiltelefone und hielten die Szenerie für die Nachwelt fest. Auch sie schienen das "andere" Moskau zu genießen. Die WM-Party war in vollem Gange.

Die TV-Geräte klein, die Bar voll

Auch meine weiteren Reisestationen bekräftigten den in Moskau gewonnen Eindruck. In Sotschi, dem russischen Badeort am Schwarzen Meer, feierten die schwedischen Fans ihre Midsommernacht an der Strandpromenade und sorgten für positive Stimmung. In St. Petersburg waren es sogar die Russen selbst, die aufgrund der guten Leistungen ihrer zu Beginn des Turniers noch verschmähten Mannschaft, nun auch die WM für sich entdeckt hatten, die Stimmung machten. "Russija, Russija" schallte es über das Fanfest auf dem Konjuschennaja-Platz, ganz in der Nähe der Auferstehungskirche und dem berühmten Eremitage. Dort hatten sich tausende Menschen versammelt um den möglichen Einzug der Russen ins Viertelfinale gegen die favorisierten Spanier mit zu verfolgen. Die Stimmung war gut, genauso wie in Mollie's Pub auf der Rubinstein Straße. Dort versuchte ich einen einigermaßen guten Blick auf das finale Elfmeterschießen zu erhaschen. Die TV-Geräte waren klein und die Bar rappelvoll - lautstark wurde jeder Treffer der "Sbornaja" bejubelt.

Fußball WM 2018 Spanien vs Russland
Die russische Nationalmannschaft schreibt WM-Geschichte und zieht ins Viertelfinale einBild: Reuters/C. Recine

Als Igor Akinfejew den letzten Schuss des Spaniers Iago Aspas kunstvoll parierte, gab es in der kleinen Kellerbar kein halten mehr. Auf einmal lebte der Traum von mehr - die russische Nationalelf war plötzlich wichtig und vor allem erfolgreich. Auf der Suche nach etwas frischer Luft, entdeckte ich vor der Tür einen russischen Fan, der seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte - vollkommen aufgelöst musste Alexej von seinen Freunden minutenlang beruhigt werden. Der größte russische WM-Erfolg war perfekt. Es sind solche Momente, die für mich eine WM ausmachen. Gerade wenn die sportlichen Leistungen der Teams in den meisten Fällen nicht begeistern können, sind die emotionalen Geschichten rund um Sieg und Niederlage, umso spannender.

Mini-Public-Viewing ohne Live-Übertragung

Für mich ging es nach der Achtelfinal-Sensation des Gastgebers erstmal zurück nach Deutschland. Unsere Weltmeister-Elf war schließlich auch schon lange zu Hause. Nach einer Woche "Fußball im Büro" stieg ich dann aber wieder in den Flieger - das Finalwochenende wollte ich mir nicht entgehen lassen. Die Russen waren mittlerweile ausgeschieden und mit ihnen war auch die WM-Euphorie verschwunden. Viele Fans waren abgereist, vielen Polizisten und Sicherheitsleuten konnte man die mittlerweile fast vierwöchige Weltmeisterschaft an den müden Augen ansehen. Russische Fans traf ich nur noch selten in Moskau.

Das Spiel um Platz drei schaute ich mir in einem kleinen Hinterhof in unmittelbarer Nähe zur Nikolskaya an. Barbesitzer Arsene hatte einen kleinen Fernseher auf den Boden gestellt und rundherum einige Stühle und Tische aufgebaut. Halb improvisiert und doch gemütlich. Viele Fans waren in die "Mini Fan Zone", so hatte Arsene seinen Innenhof getauft, aber nicht gekommen, Arsene war dennoch bemüht alle Besucher zufrieden zu stellen. Dass er in der Halbzeitpause das Kabel am TV-Gerät kaputt gemacht und damit die Live-Übertragung im Freien beendet hatte, sei ihm verziehen. Im Innenraum der Kneipe konnten wir die entscheidende zweite Halbzeit zu Ende gucken, nur eben mit etwas weniger Tageslicht.

"Ich bin sehr positiv überrascht. Die Menschen hier in Russland sind alle sehr freundlich", erzählte mir ein kroatischer Fan, der sich das Spiel der Engländer anschaute. Ihm sei vorher viel Negativs über das Land und die Menschen erzählt worden, es sei aber komplett anders gekommen, sagte er. Ich stimmte zu. Einen Tag später bekam die WM dann den Weltmeister, den sie verdient hatte - die aus sportlicher Sicht wohl beste Mannschaft, hatte sich den Pokal nach einem furiosen Finalspiel im Luschniki-Stadion verdient gesichert. Doch nicht nur die Franzosen dürfen sich als Gewinner betrachten, auch die Menschen in Russland haben gewonnen. Weltweit dürfte das Land einige Sympathiepunkte gesammelt und den einen oder anderen Skeptiker somit eines besseren belehrt haben. Genauso wie mich.