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PolitikAsien

Die Terror-Strategie des IS in Afghanistan

26. April 2022

Mit fortgesetzten Anschlägen auf Schiiten will der IS in Afghanistan das Land ins Chaos stürzen und erneut zum Stützpunkt des Dschihad machen.

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Afghanistan - Explosion in Kabul
Verletzter Jugendlicher in einem Kabuler Krankenhaus nach einem Bombenanschlag in einem Schiiten-Viertel im April 2022Bild: Wakil Kohsar/AFP

Eine Serie von Bombenanschlägen mit vielen Toten und Verletzten im April, verübt von dem afghanischen Ableger des IS namens "Islamischer Staat in Chorasan" (IS-K), zeigt, dass die Taliban ihrem Anspruch nicht gerecht werden, für mehr Sicherheit zu sorgen. Sie sind offenbar nicht in der Lage, den Dschihadismus in ihrem Land einzudämmen.

Der IS-K rekrutiere sich aus unterschiedlichen Milieus, sagt der Politologe Asiem El-Difraoui, Autor mehrerer Bücher über den internationalen Dschihadismus. Zu den Kämpfern gehörten ehemalige Mitglieder der Taliban, denen deren Ideologie nicht radikal genug sei; hinzu komme eine begrenzte Zahl arabischer Kämpfer, ebenso auch pakistanische Taliban (Tehreek-e-Taliban) sowie Bürger aus ehemaligen Sowjetstaaten wie Usbeken und Tadschiken. "Aufgebaut wurde die Organisation von Kämpfern, die sehr enge Kontakte in den Irak und Syrien hatten", sagt Difraoui, Mitbegründer des Thinktanks Candid Foundation und Autor mehrerer Bücher zum islamistischen Terrorismus (zuletzt "Die Hydra des Dschihadismus - Entstehung Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr", 2021).

Afghanistan Prekäre Situation für arme Menschen in Bamiyan
Illusorisches Sicherheitsversprechen der Taliban-FührungBild: Ali Khara/REUTERS

Der IS verfolgt auch von Afghanistan aus eine globale Agenda. Das Ziel: in möglichst vielen Ländern die religiöse Herrschaftsform des Kalifats zu errichten. Diese Agenda bringt sie in scharfen Gegensatz zu den Taliban, die ihren Herrschaftsbereich auf Afghanistan beschränken wollen. "Sie haben erklärt, dass von Afghanistan kein globaler Dschihad mehr ausgehen werde, wie er sich etwa in den Terroranschlägen des 11. 2001 zeigte", so Difraoui. Hinzu komme eine noch radikalere Auslegung des Islam. "Sie sind für ein absolutes Musik-Verbot, das auch für private Räume gilt, die Trennung der Geschlechter ist noch radikaler als unter den Taliban."

Wachsende Gefahr

Die vom IS-K ausgehende Gefahr dürfte in den kommenden Monaten weiter wachsen, heißt es in einem aktuellen Bericht des US-Regionalkommandos für Nordafrika, den Nahen Osten und Zentralasien (CENTCOM) für den US-Senat. In dem Maß, in dem sich die wirtschaftliche Lage und die humanitäre Krise in Afghanistan verschärften, könnten Teile der betroffenen Bevölkerungsgruppen zunehmend anfällig für die Rekrutierung durch den IS-K werden, heißt es dort. 

Ähnlich sehen es die Vereinten Nationen: "Terroristische Gruppen in Afghanistan genießen mehr Freiheiten als je zuvor in der jüngeren Geschichte", heißt es in dem Report für den UN-Sicherheitsrat. Auch das benachbarte Pakistan ist ins Visier des IS-K geraten. Dort kamen bei einem Anschlag auf eine schiitische Moschee im Nordwesten Anfang März 64 Personen ums Leben. Der Täter, ein in Pakistan lebender Afghane, war nach pakistanischen Angaben in seine Heimat zur Vorbereitung des Anschlags zurückgekehrt.

Afghanistan Bombenanschlag auf schiitische Moschee in der afghanischen Provinz Kandahar
Nach einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kandahar im Oktober 2021Bild: Murteza Khaliqi/AA/picture alliance

Auch in Afghanistan sind die Schiiten - genauer: die schiitischen Hasara - die bevorzugten Opfer des IS-K. Immer wieder wurden die Mitglieder der Volksgruppe in den vergangenen Monaten attackiert. Bereits im vergangenen November sahen sie sich durch die dauernden Angriffe derart unter Druck, dass ihre Repräsentanten den Taliban-Führung ihre Unterstützung zusagten. Sie seien "glücklich" über den Herrschaftswechsel in Afghanistan, erklärten sie damals. Im Gegenzug erhoffen sie sich Schutz durch die Taliban. Diese Hoffnung hat sich angesichts der Anschläge der letzten Wochen und Monate nicht erfüllt.

Drohender neuer Bürgerkrieg

Mit den Angriffen auf die Hasara verfolgt der IS-K mehrere Ziele. Er wolle sich als die entschlossenste dschihadistische Gruppe profilieren und auf diese Weise neue gewaltaffine Mitglieder gewinnen, heißt es in einer Studie des amerikanischen Forschungsinstituts Wilson Center. Zugleich versuche der IS-K durch die Anschläge die Legitimität der Taliban zu untergraben, sagt Asiem Difraoui. "Die Taliban werben für sich mit dem Argument der öffentlichen Sicherheit. Viele Afghanen - auch solche, die ihnen ideologisch gar nicht unbedingt nahestehen - hatten darauf gesetzt, dass es im Land wieder sicherer würde. Sie hatten etwa gehofft, wieder ungefährdet die Straßen nutzen zu können, wieder Ackerbau zu betreiben, ohne auf Minen zu stoßen, nicht mehr die Zerstörung ihrer Dörfer hinnehmen zu müssen. Und genau diese Sicherheit versucht der IS mit allen Mitteln zu verhindern und so die Legitimität der Taliban zu untergraben."

Afghanistan Kandahar Selbstmordattentat des IS auf Schiiten-Moschee
Schiiten wie hier nach einem Anschlag in Kandahar stehen im Fokus der IS-Terroristen Bild: Shiite Coordination Council of Afghanistan

Letztlich versuche der IS-K, die Gesellschaft zu spalten: "Er attackiert die Schiiten, um eine Bürgerkriegs-Stimmung zu schaffen. Darin ist die Situation der des Irak im Jahr 2003 vergleichbar. Irgendwann, so das Kalkül, könnten sich die Hasara durch die Taliban nicht mehr geschützt sehen und sich dann gegen sie wenden."

Verschärft hat sich die Lage auch, weil die USA seit ihrem Rückzug aus Afghanistan die dschihadistischen Gruppen nur noch eingeschränkt beobachten können. Offen ist zudem, inwieweit die Zusammenarbeit mit den Taliban - etwa durch die Weitergabe geheimdienstlicher Informationen zu den dschihadistischen Gruppen - praktikabel und wünschenswert ist. Vorerst, heißt es in der Studie des Wilson Centers, müssten sich die Taliban vor allem auf ihre eigenen Kräfte verlassen. Angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage dürfte die dschihadistische Herausforderung nicht kleiner werden. "Der IS", sagt Asiem Difraoui, "könnte ein sehr großer Störfaktor werden."

 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika