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Die Richter und der Präsident

Michael Knigge21. Oktober 2004

Im US-Wahlkampf spielt die Außenpolitik die unumstrittene Hauptrolle. Dabei gerät ein Aspekt in den Hintergrund, der das Land über Jahrzehnte hinaus prägen könnte: die Besetzung des Obersten Gerichtshofes.

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Säule des US-Systems: der Supreme CourtBild: AP

"Präsidenten kommen und gehen, aber der Supreme Court bleibt ewig bestehen", soll William Howard Taft einmal über die Bedeutung des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) der Vereinigten Staaten gesagt haben. Taft sprach aus eigener Erfahrung: Von 1909 bis 1913 war er Präsident der USA, von 1921 bis 1930 Oberster Richter des Supreme Courts. Tafts Bemerkung über das Gericht beschreibt die politische Bedeutung dieser Institution noch immer treffend - obwohl Taft sicher nicht der objektivste Beobachter beider Institutionen war. Er verstand sich zeitlebens als Jurist, nicht als Politiker und verbrachte deshalb vier sehr unerquickliche Jahre im Weißen Haus.

Bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl am 2. November 2004 gilt der Supreme Court als einer der politischen Hauptpreise für den Sieger. Während der Supreme Court meistens relativ unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit arbeitet, wird seine enorme Bedeutung doch in regelmäßigen Abständen deutlich: So etwa bei der Entscheidung über die Beendigung der Auszählung in Florida bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 oder durch das Urteil im Zuge der umstrittenen Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen durch die Regierung Bush. Und für die Besetzung der Richterposten ist der Präsident zuständig.

Zehn Jahre ohne Veränderung

Seit 1994 gab es keine Veränderung in der Zusammensetzung des aus neun Richtern bestehenden Gremiums, die vom Präsidenten auf Lebenszeit ernannt werden. Damals bestellte Bill Clinton Stephen Breyer als Nachfolger für den ausgeschiedenen Harry Blackmun. Der derzeitige Supreme Court gilt allgemein als eng geteilt zwischen liberalen und konservativen Richtern, mit John Paul Stevens als Wortführer des liberalen Lagers und dem Obersten Richter William Rehnquist als Anführer des konservativen Lagers. Einflussreichste Stimme des Gremiums ist die von Ronald Reagan nominierte Sandra Day O'Connor, weil die als gemäßigt konservativ geltende Richterin nicht strikt einem Lager zuzurechnen ist, und daher häufig das ausschlaggebende Votum abgibt.

O'Connor ist 74 Jahre alt, Stevens ist 84 Jahre alt, Rehnquist ist 80 Jahre alt - insgesamt sind acht der neun Richter älter als 65 Jahre. Obwohl es keine Begrenzung der Amtszeit für Oberste Richter gibt, wird schon seit Jahren über Rücktritte von Richtern aus Altersgründen und mögliche Nachfolger spekuliert. Bislang hat allerdings keiner der neun Richter eine Niederlegung des Mandats angedeutet. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass während der Amtszeit des nächsten Präsidenten Neubesetzungen des Gremiums anstehen.

Politische Dauerbrenner

Aufgrund der knappen Stimmverhältnisse könnte schon die Nominierung eines Richters große Auswirkungen auf die Rechtsprechung haben. Die in der Gesellschaft und im Supreme Court heftig umstrittenen Themen sind seit Jahren die gleichen: Abtreibung, die Förderung von Minderheiten durch Quoten (affirmative action), die Trennung von Staat und Kirche.

Von einer Neubesetzung des Gremiums durch einen oder mehrere konservative Richter hoffen Abtreibungsgegner, das vor vier Jahrzehnten durch den Supreme Court bestätigte Recht auf Abtreibung umkehren zu können. Während Herausforderer John Kerry bereits eindeutig erklärt hat, er werde nur Richter nominieren, die das Recht auf Abtreibung unterstützen, hat Präsident George W. Bush bislang eine klare Aussage vermieden. Stattdessen hat Bush sich wiederholt für ein höchstrichterliches Verbot einer umstrittenen Abtreibungspraxis (partial birth abortion) ausgesprochen, was Kerry ablehnt.

Quotenregelung und Religion

Auch beim Thema der im Zuge der Bürgerrechtsbewegung erlassenen Förderung von Minderheiten durch Quoten beispielsweise für den Zugang zu Hochschulen unterscheiden sich Bush und Kerry. Während der Präsident die Praxis der so genannten "affirmative action" abschaffen will, möchte Kerry sie beibehalten.

Bei der umstrittenen Frage der Trennung von Staat und Kirche gab es in den vergangenen Jahren unterschiedliche Urteile des Supreme Courts. Während das Gericht das Recht auf staatlich finanzierte "Gutscheine" für Eltern (school vouchers), die ihre Kinder auf einer von einer Glaubensgemeinschaft betriebene Schule schicken wollten, aufrecht erhielt, verboten die Richter öffentliche Gebete vor schulischen Sportveranstaltungen. Während Bush die "school vouchers" unterstützt, hat Kerry noch keine klare Haltung zu beiden Themen bezogen.

Politischer Wandel

Mit der möglichen Ernennung von neuen Richtern, die vom Senat bestätigt werden müssen, könnte der neue Präsident die Politik des Landes auf Jahrzehnte beeinflussen. Doch auch für den Verlierer gibt es Hoffnung: Zahlreiche Richter des Supreme Court ändern im Laufe ihrer Amtszeit ihre Haltung. Wer als Konservativer nominiert wird, kann nach Jahren im Richteramt durchaus als Liberaler enden. Oder umgekehrt.