Die Niederlande und das organisierte Verbrechen
15. Juli 2021"Der Tod von de Vries berührt mich tief", schrieb Premierminister Mark Rutte nach der Mitteilung durch dessen Familie. "Wir schulden ihm Gerechtigkeit. Wir werden alles tun, um das Verbrechen nach Kräften zu bekämpfen. Diese feige Tat soll nicht ungesühnt bleiben." Aber kommt der niederländische Premier mit seinen Versprechen zu spät? Hat sich das organisierte Verbrechen, besonders der internationale Drogenhandel, in den Niederlanden längst so festgesetzt, dass die Politik dagegen machtlos erscheint?
Das organisierte Verbrechen ist ein Monster
Gerrit van de Kamp, der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, hatte bereits vor dem Tod von Peter de Vries die Frage gestellt, wann "Politiker in den Niederlanden realisieren, dass das Verbrechen in den Niederlanden völlig aus dem Ruder gelaufen ist. (…) Diese Leute gewinnen einfach". Van de Kamp nennt das organisierte Verbrechen ein "Monster, das kaum noch kontrolliert werden kann".
"Diese Leute haben so viel Macht, so viel Geld. Und was können wir als Gesellschaft dagegen tun? Während die Niederlande in den letzten Jahren so viel reicher geworden sind, geben wir immer weniger für unsere Sicherheit aus." Das Budget für die Verbrechensbekämpfung sei in den vergangenen Jahren von 1,8 Prozent des Nationaleinkommens auf 1,3 Prozent geschrumpft. "Es ist Zeit, das Den Haag versteht, das es so nicht weitergeht. Es grenzt an Fahrlässigkeit."
Auch die führenden Zeitungen der Niederlande sind extrem kritisch. „Diese feige Tat ist ein erneuter Angriff gegen die Rechtsstaatlichkeit, schrieb "De Telegraaf" nach dem Anschlag auf de Vries. Zuvor sei schon der Anwalt des Belastungszeugen in einem großen Drogenprozess ermordet worden und Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Journalisten hätten nur begrenzten Polizeischutz.
"Die Polizei und die Politik wissen seit langem, dass die Drogenkriminalität in Amsterdam dermaßen angewachsen ist, dass sie die Gesellschaft zerstört". Unorthodoxe Lösungen müssten her, um die kriminelle Energie an der Wurzel zu zerstören. Auch die Zeitung "De Volkskrant" klagt, die Regierung sei nicht hart genug. Sie solle nach Italien schauen, wo im Kampf gegen das organisierte Verbrechen große Fortschritte gemacht wurden. "Die Niederlande sind kein Mafia-Staat, aber ein Narco-Staat, in dem Drogenkriminelle zu viel Macht angehäuft haben."
Einfallstor für Drogen nach Europa
Ein Beispiel für Italiens Erfolge sind etwa die Ermittlungen gegen die "Kompania Bello", eine große albanische Drogengang mit besten Kontakten nach Lateinamerika. Fahnder aus Italien identifizierten dabei auch mehrere albanische Gruppen in den Niederlanden, die sich mit der Weiterverbreitung von Drogen in ganz Europa befassten, die über die Häfen in Rotterdam und dem belgischen Antwerpen eingeschleust werden. Dabei übten die albanischen Bosse strenge Kontrolle über ihre Fußsoldaten in den Niederlanden aus und würden absolute Loyalität sowie Schweigen im Falle von Verhaftungen erzwingen.
Die europäische Polizeibehörde Europol sprach in ihrem jüngsten Bericht davon, dass Europa auf der Kippe stehe - Grund sei ein "nie erlebter Zustrom von Kokain". "Die Auswirkungen auf das Leben der Bürger, auf die Wirtschaft, auf die Rechtsstaatlichkeit sind zu groß geworden", erklärte Europol-Chefin Catherine de Bolle. Das Kokain sei extrem rein und es gebe mehr denn je zuvor, heißt es in dem Bericht. Die schieren Mengen der Droge, die aus Lateinamerika in die EU gebracht würden, verschafften den Kartellen Milliarden-Profite. Allein im Februar waren bei Razzien in Rotterdam, Antwerpen und Hamburg 23 Tonnen Kokain beschlagnahmt worden.
Der Kokainhandel "unterhält kriminelle Unternehmen, die ihre enormen Ressourcen nutzen, um die wirtschaftlichen und öffentlichen Institutionen in der EU zu infiltrieren und zu unterminieren", heißt es im Europol-Bericht weiter. Die Niederlande müssen sich davon angesprochen fühlen. Rotterdam und Antwerpen, das von niederländischen Gangs kontrolliert wird, sind die mit Abstand größten Drogenumschlagplätze in Europa. Der Handel führe auch zu erhöhter Gewalt, so Catherine de Bolle, Kriminelle hätten keine Bedenken mehr, "Schusswaffen, Handgranaten oder Folter zu benutzen". Im vorigen Jahr war in der Provinz Brabant in einer Reihe umgebauter Schiffscontainer eine regelrechte Folterkammer gefunden worden.
Was müssten die Behörden tun?
Die Kriminologin Lieselot Bisschop hat die Strukturen des Drogenhandels besonders in Rotterdam untersucht. Die Niederlande seien für ihre guten logistischen Systeme bekannt: "Es gibt gute Transportwege über die Häfen, Straßen Eisenbahnen und Kanäle. Das macht das Land für den Drogenhandel interessant, weil man all das einfach nutzen kann". Es gebe einen großen Flughafen und einen idealen Zugang zum Rest Europas.
Bisschop glaubt, die Behörden müssten viel mehr darüber herausfinden, welche Unternehmen von den Gangs missbraucht werden, wie die Dealer Mittäter rekrutieren und welche Schwächen im Recht sie nutzten. Der zweite Aspekt, so die Kriminologin, sei, die Hürden gegenüber diesen Taten zu erhöhen: "Wir müssen es (für die Dealer) schwerer machen, diese Verbrechen zu begehen. Aber dazu braucht man alle Teilnehmer in der Versorgungskette (…) und das ist natürlich eine Riesenaufgabe".
Justizminister Ferdinand Grapperhaus sprach nach dem Anschlag auf Peter de Vries von einem "vielköpfigen Monster, das immer gewalttätiger und skrupelloser wird". In jüngster Zeit hat die niederländische Polizei eine Rekordzahl von Razzien gegen Methadon-Labore sowie gegen Lieferungen von Kokain und Heroin durchgeführt. Dennoch scheint eine konzertierte nationale Strategie zu fehlen. In jedem Fall dürfte der Tod des Kriminalreporters de Vries den Druck auf die Regierung in Den Haag erhöhen, den Kampf gegen die Drogenkriminalität offensiver und härter zu führen, als das in den liberalen Niederlanden bisher der Fall war.