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Die nötige Distanz zur alltäglichen Nähe 

22. August 2019

Warum wir gute Lokaljournalisten brauchen. Ein Plädoyer von Helge Matthiesen, Chefredakteur des Bonner General-Anzeiger und gelernter Lokaljournalist.

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Bildergalerie Großbauprojekte World Conference Center Bonn
Die Baustelle des WCCB im August 2009Bild: picture-alliance/dpa

Große Geschichten beginnen manchmal ganz klein – in der Lokalredaktion zum Beispiel: Die Recherchen der Washington Post im Watergate-Hotel begannen dort. Bob Woodward saß in einer Gerichtsverhandlung, in der es um einen vermeintlich banalen Einbruch in das Hotel ging, und nahm die entscheidende Information auf. Am Ende stürzte ein Präsident und die USA waren nicht mehr das gleiche Land wie vorher. 

Der Bau des World Conference Center Bonn (WCCB), in dem auch das Global Media Forum der DW einmal im Jahr tagt, ist verbunden mit einem Betrugsskandal, der zu mehreren Verurteilungen führte und die Stadt Bonn rund 300 Millionen Euro kostete. Die Redaktion des Bonner General-Anzeiger hat das über Monate und Jahre recherchiert, dokumentiert und die Informationen veröffentlicht. Vor zehn Jahren kam der Stein ins Rollen.

Lokaljournalisten sind nah dran. Sie haben einen Vorteil – der zugleich ihr größtes Handicap ist. Wenn sie ihre Aufgabe ernst nehmen, erfahren sie viele Dinge, die Beobachtern aus der Ferne gar nicht auffallen würden. Das führt sie manchmal direkt zu Geschichten, deren Aufdeckung den Mächtigen einer Stadt nicht passen.

Mut und gesundes Selbstbewusstsein 

Den Akteuren ihrer Region begegnen die Journalisten nicht nur in ihrem Beruf, sondern im Alltag. Ihre Kinder gehen in die Schule, sie treiben Sport und sind in Vereinen aktiv. Überall werden sie mit den Folgen kommunaler Politik konfrontiert. Wenn sie wach und aufmerksam sind, ist ihr Alltag ein offenes Buch, in dem sie nur lesen müssen. Sie können die politischen Entscheider, die Chefs von Unternehmen meist direkt fragen, auch informell und zunächst ohne Öffentlichkeit, um Entwicklungen einzuschätzen. 

Hier liegt die große Gefahr der Nähe. Wer sich mit den Mächtigen einer Stadt gemein macht, lässt womöglich Dinge unter den Tisch fallen, die in die Öffentlichkeit gehören. Lokaljournalisten begegnen dem Bürgermeister, dem Abgeordneten, dem Chef der größten Firma am Ort jeden Tag. Wenn sie den Konflikt scheuen, haben die Mächtigen ein leichtes Leben. Lokaljournalisten brauchen daher Mut und ein gesundes Selbstbewusstsein.

Weil sie diesen lokalen Akteuren jederzeit wieder begegnen, ist auch die Arbeit einer Redaktion kontrollierbar. Lokaljournalisten müssen sich rechtfertigen, denn sie sind bekannt und werden auf ihre Arbeit angesprochen. Sie treffen ihre Leserinnen und Leser jeden Tag. Wenn sich eine Lokalredaktion zu weit von den Wünschen und Problemen der Menschen entfernt, erlischt die Verbindung zum Publikum. Dann verlieren Journalisten ihre Glaubwürdigkeit. 

Faktentreue und Redlichkeit 

Wer die Mächtigen kontrollieren will, muss sein Handwerk beherrschen. Er muss wissen, wie er an Informationen kommt und wie er diese prüft und verlässlich dokumentiert. Wichtig ist auch immer die Gegenseite. Sie muss gehört werden. Das liegt auch im Interesse der Medien, die fair mit den Menschen umgehen müssen. Für die Arbeit an der Basis der Gesellschaft, wo sich das Leben abspielt, braucht es die besten Kräfte. Lokale Medien leben von ihrer Glaubwürdigkeit. Gerade für sie ist die klassische Trennung von Nachricht und Kommentar von hoher Bedeutung. Niemand lässt sich gern manipulieren und in einer Stadt oder einer Region sind die Fakten für jedermann leicht nachprüfbar. Redlichkeit ist daher wichtige Voraussetzung für die Arbeit. Social Media gehört dazu, wenn Journalisten ihr Publikum erreichen wollen. Aber es ist nur ein Kanal.

Guter Lokaljournalismus organisiert den demokratischen Alltag. Er formuliert wichtige Themen, die alle betreffen und über die gesprochen werden muss, damit es Lösungen gibt. Gute Journalisten bringen diese Debatte in Gang. Doch sie entscheiden am Ende nicht allein, was wichtig und was unwichtig ist. Politik zu machen ist nicht ihre Aufgabe. Sie müssen Distanz wahren zu allen Seiten, um mit allen sprechen zu können. Das ist gerade für Reporter in einem überschaubaren Umfeld von Bedeutung. Lokale Medien sind immer der Demokratie und der Freiheit verpflichtet. Sie gilt es zu verteidigen – gegen Einflussnahmen und Druck von allen Seiten, mit Augenmaß und Fairness, denn nicht jede Kritik ist ein Angriff auf die Pressefreiheit.

Es geht um die Interessen der Menschen in der Region

Jede Gesellschaft fängt in der Familie an, in einem Dorf, in einer Stadt. Journalisten, die hier arbeiten, haben die Aufgabe, den Menschen in ihrer Region eine Stimme zu geben, zum Beispiel wenn sich niemand um die Schwierigkeiten eines Landstrichs kümmert, der keine vernünftige Bahnverbindung hat oder dem das Datennetz fehlt. Wenn es um die Interessen der Menschen in der Region geht, dürfen lokale Medien Partei ergreifen.

Lokaljournalismus muss frei sein: von wirtschaftlichen Zwängen, von politischen Einflussnahmen, von Gewalt und Drohung. Weil die Redaktionen nah bei den Menschen sind, ist das nicht immer und überall selbstverständlich. Diese Freiheiten müssen jeden Tag verteidigt werden. Lokaljournalismus ist von zentraler Bedeutung für die Demokratie. Wo es keine Journalisten gibt, kontrolliert niemand die Mächtigen und niemand kümmert sich um die großen Skandale, wie den Watergate-Einbruch oder den fahrlässigen und kriminellen Umgang mit öffentlichen Geldern wie in Bonn.