Die Müllrebellen
12. April 2016
Bogotá 1974: Nohra Padilla ist sieben Jahre alt, als sie anfängt, am Fuße der städtischen Mülldeponie zu arbeiten. Jeden Tag durchsiebt sie den Abfall nach Verwertbarem. Plastik oder Metallabfälle, die sie verkaufen kann, um damit den Lebensunterhalt ihrer Familie mit zu bestreiten. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Die Familie ist vor gewaltsamen Übergriffen auf dem Land in die kolumbianische Hauptstadt geflohen.
Als die Müllkippe geschlossen wird, geht die Familie, wie viele andere auch, auf die Straße. Auch hier gibt es viel Müll, der gesammelt werden kann. Doch auf der Straße werden die Padillas an jeder Ecke diskriminiert. Ganz im Sinne der kolumbianischen Regierung, der die Straßensammler ein Dorn im Auge sind. Sie bevorzugt große Firmen, weil sie vermeintlich effizienter und hygienischer arbeiten - wenn auch weniger umweltfreundlich. Die Regierung bringt eine Reihe von Gesetzen auf den Weg, die zum Verbot der Arbeit der Abfallsammler führen.
Im Jahr 1991 dann gründet Nohra Padilla, zusammen mit anderen Müllsammlern, die "Association of Recyclers of Bogotá" (ARB). Sie wollen sich in erster Linie selbst schützen, und ihre rechtliche Anerkennung erreichen. Das gelingt in einem bahnbrechenden Rechtsstreit. Allerdings erst im Jahr 2013.
"Nach 30 Jahren des Kampfes, werden Bogotás Recycler endlich wahrgenommen. Heute haben sie die gleichen Rechte, wie jeder andere Arbeiter auch", sagt Padilla. Die ist inzwischen 49 Jahre alt und die Direktorin von ARB.
Seit sie den Rechtsstreit gewonnen haben, werden die Müllsammler, die in der Stadt registriert sind, zweimal im Monat bezahlt, für jede Tonne gesammelten Materials. Das geschieht über städtische Wiege-Zentren. Es gibt allerdings auch einen privatwirtschaftlichen Markt, auf dem Abfall angeboten werden kann. Durch beide Möglichkeiten haben viele ihre Einkommen verdoppeln oder sogar verdreifachen können.
Die Errungenschaften der 21.000 recicladores (Abfallsammler) in Bogotá haben sie zu einem Vorbild für andere rechtelose Müllsammler überall auf der Welt gemacht, sagt Padilla. Diese Müllsammler entsprechen etwa einem bis zwei Prozent aller knapp 4 Milliarden Menschen, die weltweit in Städten wohnen. Von dieser Zahl geht die Weltbank aus. Müllsammler leben oft unter prekären Bedingungen. Sie sind extrem arm und haben wenige, oft überhaupt keine Arbeitsrechte. Und trotzdem spielen sie eine bedeutende Rolle für die Wirtschaft ihrer Heimatländer und helfen beim Umweltschutz.
Umweltschützer
Allein in Bogotá sammeln recicladores jeden Tag laut einer Studie der "Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing" (WIEGO) knapp 1200 Tonnen Abfall. Und die Stadt wächst rasend schnell. Heute leben gut 8 Millionen Menschen in der Megacity.
Die Müllsammler durchkämmen vor allem Doña Juana, Bogotás einzige und beinahe überquellende Deponie. Das gesammelte Material bringen sie zu einem der sieben Recycling-Zentren von ARB oder zu einer der insgesamt 207 privaten Sammelstellen.
Indem sie den Müll von der Deponie wegschaffen, sorgen die recicladores für einen stetigen Fluss an Roh- und Verpackungsmaterialien bei den verschiedenen Verwertungsunternehmen in Kolumbien. Wasserflaschen zum Beispiel werden manchmal an Firmen verkauft, die aus ihnen ähnliche Produkte herstellen oder ganz andere - Kleidungsstücke zum Beispiel. Damit wird der Industrie geholfen, aber auch der Ausstoß von Treibhausgasen reduziert.
"Die Erfahrungen, die wir in allen Entwicklungsländern machen, zeigen, dass Recycling ohne die Müllsammler nicht funktioniert. Ganz einfach, weil die offiziellen Systeme, die es vor Ort gibt, der Lage nicht Herr werden", sagt Sonia Maria Dias, eine Soziologin und Abfallspezialistin aus Brasilien.
Die Staaten setzten stattdessen auf Verbrennungsöfen, deren Abgase die Luft verpesten. "Das ist vollkommen sinnlos", so Dias. Schließlich sei ein großer Teil des Mülls, der auf der Südhalbkugel produziert werde, organischer Natur oder recyclebar, ergänzt sie. Er müsse nicht verbrannt werden. Verbrennt man stattdessen Kunststoffe, können Dioxine frei werden, krebserregende Stoffe, die lange Zeit in der Umwelt bleiben. Diese können sich auch im Wasser anreichernn oder Lebensräume und damit am Ende die Artenvielfalt gefährden.
Regierungen und Öffentlichkeit nehmen den positiven Einfluss der Müllsammler auf Umwelt und Wirtschaft nur sehr langsam wahr. Deren Selbstverständnis hat sich über die eigene Organisation aber deutlich schneller geändert. ARB beispielsweise unterweist seine Mitglieder in technischen Standards oder zu Sicherheitsfragen. Die Organisation veranstaltet auch Seminare, um vor allem Frauen auf Führungspositionen vorzubereiten. Immerhin 31 Prozent der Müllsammler in Bogotá sind Frauen.
"ARB hat Müllsammlern ein neues Selbstbewusstsein gegeben: 'Ihr seid nicht nur Müllsammler, sondern auch Umweltschützer, und ihr erweist der Gesellschaft einen wertvollen Dienst'", sagt Federico Parra. Er arbeitet für WIEGO, einer Partnerorganisation von ARB, in Lateinamerika.
Kämpfen müssen die Abfallsammler trotzdem, um die Rechte, die sie 2013 erstritten haben, zu verteidigen. Erst vor Kurzem gingen Mitglieder des ARB in Bogota wieder auf die Straße, um gegen Pläne der Stadtverwaltung zu protestieren. Diesmal ging es darum, das etablierte System abzuschaffen und es gegen ein technisiertes einzutauschen. Auch diesmal setzten sich die Demonstranten durch.
Zukunftsplanung
ARB ist heute nicht mehr die einzige Organisation ihrer Art in Kolumbien. Sie muss sich weiterhin gegen allgegenwärtige und mächtige wirtschaftliche Interessen behaupten. Padilla ist mehrfach bedroht worden, über das Telefon oder durch Waffengewalt. Ihr Computer wurde gestohlen, ebenso ihr Ausweis.
Trotzdem hat es die ARB geschafft, die Regierung Kolumbiens von einen Müllmanagement zu überzeugen, zu dem auch die recicladores gehören. Die Organisation ist in 12 Städten Kolumbiens aktiv, um dieses Konzept durchzusetzen. Sie war Vorbild für ähnliche Bewegungen in Ländern wie Ecuador, Argentinien und Südafrika.
Gegen den Erfolg können auch Kritiker nichts ausrichten, die Müllsammler ein altmodisches System nennen, das abgeschafft und durch Technik ersetzt werden müsse. Doch, was vielleicht in einer Stadt funktioniert, muss in einer anderen nicht genauso funktionieren. Moderne Technik kann auch durch Menschen ersetzt werden, sagt Padilla, mit nur geringem Einfluss auf die Umwelt. Für ihre Arbeit hat sie 2013 den Goldman Environmental Prize bekommen, die größte internationale Auszeichnung für Umweltaktivisten, die an der Basis arbeiten.
Die Müllsammler in Bogotá haben nun zum Beispiel offizielles Kartenmaterial, um damit in wirklich jedem Winkel der Stadt nach wertvollem Abfall suchen zu können. Dazu nutzen sie in der Regel den Zorro, einen Handkarren, der im Gegensatz zu modernen Müllwagen keine Schadstoffe ausstößt.
"Was die Müllsammler erreichen", sagt Padilla, "ist eine vom Menschen getriebene Technologie, mit positiven Auswirkungen auf die Umwelt."