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Glaube

Die Kunst des Loslassens zum Jahresende

30. Dezember 2023

Etwas gut gehen lassen können, diese Kunst braucht es nicht nur an Silvester. Aber da besonders: Wie kann und will ich 2023 ziehen lassen? Ein Beitrag der evangelischen Kirche.

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Symbolbild Jahresbeginn
Bild: Wolfilser/Shotshop/IMAGO

Wie gut, das Jahr endet mit einer Verschnaufpause: Silvester am Sonntag – das gibt die Chance, 2023 etwas ruhiger ausklingen zu lassen. Ja, da geht etwas zu Ende. Wie kann und will ich es ziehen lassen? Die Kunst des Loslassens ist ja auch an anderen Stellen des Lebens gefragt - bis in den Glauben hinein. 

Es gibt das kleine Loslassen, das große und das ganz große. Leicht ist keines von den dreien. 

Bei dem kleinen Loslassen denke ich an eine Frau, die sich monatelang auf ihren Winter-Urlaub freut. Doch eine Woche vorher verletzt sie sich das Bein. Sie wird den Urlaub nicht antreten können. Es fällt ihr wahnsinnig schwer, aber sie muss diesen Plan aufgeben - loslassen.  

Beim großen Loslassen denke ich an den Mann, der sein Leben lang gesund und stark war. „Nie im Krankenhaus“, sagt er stolz. Aber nun hat er eine heftige Diagnose bekommen. Er wird leben, aber nicht mehr so wie vorher. Er muss vorzeitig aus dem Beruf heraus, muss sich schonen und viel Zeit mit medizinischer Behandlung verbringen. Das Selbstbild des starken Mannes muss er loslassen. Nun ist er ein kranker Mann. 

Im Kleinen wie im Großen ist meine Erfahrung: Wer etwas Wichtiges loszulassen hat, ist erst einmal beunruhigt. Denn da verschwindet ein Teil des bisherigen Lebens. Damit gehen Menschen ganz unterschiedlich um.  

Manche wollen es nicht wahrhaben. Andere wollen das Bisherige zerstören. Sie gehen im Zorn und verbittert. Manche verlieren vorzeitig das Interesse an dem, was sie zu verabschieden haben. Innerlich sind sie schon vorzeitig weg. Wieder andere verklären die gute alte Zeit, in der alles besser erschien.  

Wie geht gutes Loslassen? Und erst recht das ganz große? Mir scheint: Dafür nimmt man bewusst wahr, was mit einem gerade geschieht. Ich erlaube mir, alle Gefühle und Gedanken zu haben: Mal ist die Wehmut da, mal kommt vielleicht Wut dazu. Ich bin traurig und dankbar. Vielleicht bin ich sogar erleichtert, dass etwas vorbei ist. Vielstimmig sind die Gefühle beim Loslassen, auch zum Jahresende.  

Wer diese Vielfalt der Gefühle zulässt, tut sich leichter damit, das Bisherige ziehen zu lassen. Man wird frei für das, was vor einem liegt: ein neues Jahr, eine neue Aufgabe, ein neuer Lebensabschnitt, ein neues Lebensziel.  

Wer sich im Leben von Gott begleitet weiß, wird beim Loslassen auch auf Gott schauen. Und hoffentlich erleben, dass Gott einem in allem zur Seite steht. Wenn die Wut kommt, wird Gott sie ertragen, auch wenn sie sich gegen ihn selbst richtet. Wenn sich die Trauer einstellt, wird Gott mittrauern und trösten. Wenn einen Dankbarkeit erfüllt, wird Gott sie spüren und mögen. Zuletzt wird Gott Hand in Hand mit einem die ersten Schritte in die Zukunft tun. Darauf vertraue ich.  

Das Prinzip Loslassen reicht weit in die religiösen und seelischen Tiefen des Menschen hinein. Damit nähere ich mich dem, was ich zu Beginn „das ganz große Loslassen“ genannt habe. Ich meine damit: Sein Leben in Gottes Hand legen, sich also ganz und gar auf Gott verlassen.  

Das ist alles andere als leicht, denn es hat tiefgreifende Folgen: Man macht sein Leben nicht mehr abhängig von Arbeit, Familie, Freundeskreis, Hobbies und allem anderen. Man wird fähig und bereit, dies alles loszulassen. Das ist das ganz große Loslassen: Keine Angst mehr zu haben um sich, um sein Leben, um die Welt. Wer das wagt, erlebt ein Paradox, das Jesus so beschrieben hat: „Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Wer sein Leben verliert – sprich: loslässt -, der wird es gewinnen.“ (Matthäus 10,39 u.a.)  

Das ist ein Weg zu Lebensfreude, ein Leben ohne Angst, in Zuversicht auf Gott. Dahin zu kommen, ist nicht leicht, denn es mutet einem zu, alles im Leben wirklich Gott anzuvertrauen. Dieses Vertrauen ist die Basis für das zentrale Gebet aller Christinnen und Christen, das Vaterunser. In der Mitte dieses Gebets steht die Bitte: „Dein Wille geschehe.“ Das ist ein Kernsatz für alle, die loslassen wollen und sich in Gottes Hand begeben. 

Er bedeutet nicht, dass einem alles Irdische egal wäre. Im Gegenteil. Im Vaterunser folgen weitere Bitten, und die sind irdisch-konkret: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ – „erlöse uns von dem Bösen“.  

Ich nehme diese Vaterunser-Bitten zur Hilfe, um 2023 loszulassen. Ich schaue auf das, was mich genährt hat, das tägliche Brot genauso wie das, was meine Seele satt gemacht hat. Ich denke an das, was ich falsch gemacht habe, wo ich anderen nicht gerecht geworden bin und umgekehrt sie mir nicht. Und bitte Gott um Vergebung. Das Böse, das ist kein Teufel oder Dämon. Das richten wir Menschen meistens selbst an. 2023 gab es schrecklich viel Böses. Ich bitte Gott: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Amen und einmal durchatmen: Sei Gott befohlen, altes Jahr! 

 

Zum Autor:  

Stephan Krebs (Jahrgang 1958) ist evangelischer Pfarrer und leitete von 2013 bis Mitte 2023 die Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Er wohnt in Langen/Hessen und ist im Ruhestand. Seine freie Zeit verbringt er – neben Beiträgen für Radio und Online - im lebendigen Durcheinander seiner Familie mit vier Kindern, deren Partner*innen und fünf Enkelkindern, zu denen zeitweise auch Pflegekinder stoßen. Oder mit Freunden auf einem Segelboot.

Pressefoto Parrer Stephan Krebs evangelische Kirche Deutschland
Bild: evangelische Kirche Deutschland

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.